Memento - Die Feuerblume: Band 2 (German Edition)
schwarzen Äste der Bäume so tief herabhängen, dass sie Wurzeln in den Boden geschlagen haben. Eine schneidende Kälte liegt in der Luft. Unterdessen schläft Partridge wahrscheinlich in einer konstant klimatisierten Umgebung – vielleicht bei 22 °C oder 23 °C? Pressia fragt sich, ob er überhaupt noch an sie denkt. Es kann gut sein, dass sie sich nie wiedersehen werden. Für einen Moment fühlt sie sich, als wäre alles vorbei. Nichts wird sich mehr ändern. Das ist ihr Leben, hier wird sie bleiben, für immer. Und das Kapitol ist Partridges Leben.
Wenn Bradwell stirbt, wird Pressia ihre restlichen Tage in der Hütte im Obstgarten verbringen, umzingelt von Bäumen, die sich mit der Erde verdrahtet haben. Allein.
Im Licht des Vollmonds – der wie immer großteils von Ascheschleiern verhüllt wird – kann sie die niedrige, verfallene Betonmauer in der Ferne erkennen. Dahinter, in der einen Richtung, leuchten die Feuer der Zeltbewohner. In der anderen Richtung liegt ein altes, zur Hälfte eingestürztes Wohnheim. Dort lebt Wilda.
Im Wohnheim brennt noch ein Licht. Pressia fragt sich, ob es Wildas Licht ist. Was, wenn Walronds Blackbox nirgendwohin führt? Dann wird das Mädchen sterben.
Sie tritt ins Freie und nimmt ein paar Holzscheite von dem sauber aufgeschichteten Stapel. Wie war es hier im Davor, als die Geistermädchen noch gesund und munter waren? Haben sie im Obstgarten Früchte geerntet? Pressia späht in den Garten – Strunk nach Strunk mit welken Blätterkronen, reihenweise neblige, geschwärzte Stängel, jeweils mit einer Schnur fixiert. Da sieht sie eine Bewegung. Irgendetwas huscht so schnell vorüber, dass der Dunst verwischt. Und verschwindet wieder.
Als sie einen Blick in die kleine Hütte wirft, hört sie Bradwell husten – und kurz darauf seine raue, kratzige Stimme: »Pressia!«
Pressia rennt zur Tür und lässt das Feuerholz fallen. Bradwell schlägt blind um sich. Sie kniet sich neben das Bett und starrt in seine offenen, verlorenen Augen. »Ich bin hier«, sagt sie. »Ich bin doch hier.«
Ein keuchendes Husten.
Sie bringt ihm eine Tasse Wasser, hebt seinen Kopf und setzt den Rand an seine Lippen. »Wenigstens ein Schluck. Du musst was trinken.«
Seine Augen schließen sich. Er trinkt ein paar Tropfen. Als er sich abwendet, bettet sie ihn auf die Seite.
Sie steht auf und geht auf und ab. Schließlich legt sie die Stirn an die Mauer, drückt die Hand flach auf den Stein und reibt das Moos herunter. »Bradwell«, flüstert sie. »Warum kommst du nicht zurück? So kann es doch nicht enden.« Sie wartet auf eine Antwort, aber natürlich antwortet er nicht.
Pressia zieht die Hand zurück – und entdeckt Farben an der Wand: ein bisschen Blau, etwas verschmiertes Rot. Sie studiert die Stelle genauer. Ist das nur eine weitere rötliche und bläuliche Flechte?
Sie stellt sich auf die Zehenspitzen und kratzt mehr Moos ab. Weitere Farben kommen zum Vorschein – ein Bild. Sie kratzt und kratzt, bis sie ein halbes Gesicht freigelegt hat: ein Auge, eine Wange, ein Ohr.
Wer hat hier nach den Bombenangriffen gelebt? Ein Künstler? Hat er immer weitergemalt, hier in der Hütte? Hat er die Wände bemalt, als er keine Leinwände mehr hatte?
Pressia schnappt sich den Waschlappen und tupft das Moos behutsam ab, um die Farbschicht nicht zu beschädigen. Gesichter tauchen auf, lauter junge Mädchen, die hinter dem Moos eingesperrt waren. Die Geistermädchen. Der breite Fluss, die schäumende Strömung, die lockende Strömung, die schäumende Strömung … Wer kann sie vor dieser Welt retten?
Wollte der Künstler all jene festhalten, die verloren gegangen waren? Pressia erinnert sich an den Moment, als sie im Fluss nach oben gedrückt wurde, zur Oberfläche – an die kleinen Hände an ihrem Rücken. Selbst wenn es nur Einbildung war, sie hat es gespürt. Sie waten ins Wasser, sie warten auf Heilung, Heilung ihrer Wunden. Tod durch Ertrinken, blätternde Haut, glitzernde Haut, blätternde Haut.
Pressia weiß, wie es ist, unter Wasser gefangen zu sein. Jetzt fühlt sie sich, als würde sie die Mädchen eines nach dem anderen an die Oberfläche holen. Da ist noch ein Mund, ein geöffneter Mund, als würde er eine einzelne Note eines Lieds halten. Blind marschieren sie, mit singenden Stimmen, klagenden Stimmen, singenden Stimmen. Wir hören sie, bis uns die Ohren klingeln, die Ohren kreischen, die Ohren klingeln. Ein blaues, halb geschlossenes, schmerzverzerrtes Auge. Eine rundliche,
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