Memento - Die Feuerblume: Band 2 (German Edition)
sicher ist, dass alle schlafen, sogar Freedle, holt sie das Geschenk von Partridge hervor – die Spieluhr, die seiner Mutter gehört hat. Sie zieht sie auf und hebt den Deckel, lässt aber nur ein paar kurze Noten in die Luft hinaufschweben. Hören Illia und Art diese Musik? Wohin geht die Seele nach dem Tod?
Sie schiebt die Spieluhr wieder unters Kissen.
Wie soll Partridge sich im Kapitol noch an die Außenwelt erinnern? An dieses seltsame Land da draußen?
Man wird sie auslöschen. Lyda weiß es. Das Kapitol wird nicht zulassen, dass sie für Partridge existiert.
Sie hat ihn schon einmal losgelassen. Und jeden Tag muss sie ihn von Neuem loslassen, wieder und wieder.
Ihre Fäuste verkrampfen sich. Wird er mich finden?
Nein , sagt sie sich. Denk nicht mal dran. Lass ihn los.
Sie öffnet die Hände und spreizt die Finger, so weit sie kann.
PRESSIA
Steine
Pressia studiert ihre Notizen auf Holz und Stein. Sie weiß, wo das Problem liegt: Willux war verrückt. Er war verrückt, als er den Planeten Erde hochgejagt hat, und als junger Mann war er auch schon verrückt. In die Ecke einer Seite hat er Der gute alte Bucky gekritzelt, in die andere Ecke Collins . Waren das Kumpels von ihm? Den Rest der Seite nehmen Unmengen ineinander verschlungener Schlangen ein. Auf einer Seite steht nur 20,62, 42,03, NQ4 und die Worte Ich wurde im Feuer geschmiedet, erneuert durch die Flamme . Was soll das heißen? Anscheinend hatte er eine Schwäche für Poesie. Ein Gedicht, an dem er wohl gerade gearbeitet hat, taucht immer wieder in verschiedenen Fassungen auf:
Den Gipfel des Himmels erklimmt sie täglich.
Ihres Flügels Spitze streift das Hügelgrab,
Ich würde berichten, doch meine Stimme versagt,
Denn deine Schönheit ist gleichfalls heilig.
Von Ich würde berichten, doch meine Stimme versagt zeigt ein Pfeil auf eine Variante der Zeile: Die Wahrheit wird weit oben verwahrt. Darauf folgt eine Liste mit Wörtern, die sich auf täglich reimen – reinlich , köstlich, reichlich – und auf Grab – Tag , lag , vermag . Walrond hat Willux als Romantiker bezeichnet. Hat er dieses Gedicht etwa für Pressias Mutter geschrieben? Ihr wird übel.
Sie wünschte, sie würde endlich über Formeln stolpern, über Überlegungen zu Körperzellen, Degeneration, Erneuerung, Nanobiologie … stattdessen findet sie Seiten voller Vögel und verschnörkelter Linien, voller Spiralen, die sich immer weiter verengen, voller Sternbilder oder was auch immer das darstellen soll. Seiten über Seiten.
Pressia starrt auf die wirbelnden Staubkörner in Fignans Lichtkegel. Diese Einsamkeit. Sie betrachtet Bradwells Schulter, die sich bei jedem Atemzug hebt und senkt. Sein Kinn, seine Wange. Seit er ihren Namen gerufen hat, richtet er sich zum Essen auf und läuft hin und wieder ein paar Schritte, immer mit einer Hand an der Mauer – mitten auf den Gesichtern der Geistermädchen, die er wohl nicht bemerkt. Er sieht Pressia an, als stünde sie auf der anderen Seite einer Schlucht. Manchmal flüstert er ihren Namen, manchmal sagt er »Danke«, und in diesen Momenten spürt sie, wie der Boden unter ihren Füßen aufbricht. Sie fällt und fällt und fällt, wenn er ihren Namen sagt. Doch meistens schläft er, und wenn er schläft, dreht sich alles um eine einzige Frage: Wie hat Walrond sich in Willux’ Hirn eingeschlichen? Der Raum, die Wände mit den drängenden, fordernden Gesichtern der Geistermädchen scheinen sich zu drehen. »Was, wenn das alles gar keinen Sinn ergibt?«
Sie weiß, was dann geschieht – die Geistermädchen werden sie verfolgen. Sie werden sie niemals entkommen lassen. Sie jagen und streunen an diesen Gestaden, an diesen Gestaden für alle Zeit.
»Umblättern«, verlangt sie von Fignan. Eine neue Seite aus Willux’ Notizbuch erscheint, wieder nichts als Krähenfüße.
Aber diesmal steht ein Wort am Rand: Brigid . Ihr zweiter Vorname. Emi Brigid Imanaka. Willux hat ihr den Namen nicht gegeben. Er hat erst Jahre nach ihrer Geburt von ihr erfahren. Also warum hat er sich ihren zweiten Namen notiert – über ein Jahrzehnt, bevor sie zur Welt gekommen ist? Eine wütende Röte schießt ihr ins Gesicht.
Sie fühlt sich, als hätte er sie persönlich angegriffen und provoziert. Was will er von ihr?
Pressia steht auf und sagt zu Bradwell, der immer noch tief und fest schläft: »Okay, noch mal von vorne.« Sie deutet auf eine Ecke des Tischs – rechts oben. »Hier geht es um die Sieben, um ihre Anfänge und ihre Bedeutung
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