Memento - Die Überlebenden (German Edition)
verstummen.
»Ich höre was.«
Es ist ein schwaches Summen im Unterholz. Es wird lauter und lauter, und plötzlich schwirren Flügel über ihren Köpfen.
Eine dunstige goldene Wolke senkt sich zwischen den Bäumen auf sie herab. El Capitán schlägt wild um sich. Es scheint ein Schwarm großer Bienen mit starken Körperpanzern wie bei Käfern zu sein. Das Summen ihrer Flügel erfüllt Pressias Kopf und ihre Brust. Es vibriert in den umgebenden Bäumen. Die Insekten sind wie ein ganzes Volk, das um Pressias Kopf kreist. Partridge erwischt ein paar von ihnen. Sie fallen ins Gebüsch.
Dann sieht Pressia eines der Insekten deutlich – nur ein einziges, das am Boden hockt. Es sieht aus wie Freedle – mit dem Unterschied, dass es nicht rostig und fleckig ist. Sie hebt es auf, vorsichtig, in der hohlen Hand, damit es nicht wegfliegen kann. Sie erkennt das Gefühl augenblicklich wieder. Ohne auch nur noch einen Blick darauf zu werfen, weiß sie, dass es ein fettes, glänzendes, halb mechanisches Insekt ist. Die Flügel liegen ganz eng am Körper an wie bei einer Zikade, mit dem Unterschied, dass dieses hier aus filigranem Metall gemacht ist, federleicht und kunstvoll. Es hat feine Drahtrippen und Zahnrädchen, die sich langsam drehen, einen Wespenstachel – eine goldene Nadel am hinteren Ende – und kleine Augen auf beiden Seiten des Kopfes.
»Wartet!«, sagt Pressia. »Sie tun uns nichts.« Das Insekt gibt ein vertrautes lautes Klicken und Surren von sich.
»Woher willst du das wissen?«, fragt Partridge.
»Ich hatte eines als Haustier, seit ich denken kann.«
»Und woher hattest du es?«, will Bradwell wissen.
»Ich weiß es nicht. Es war schon immer da.«
»Die Geburtstagskarte«, sagt Partridge. »Folge deiner Seele. Möge sie Flügel haben.«
»Was soll das bedeuten?«, fragt El Capitán. »Folge deiner Seele?«
»Seele«, sagt Helmud.
»Es bedeutet, dass wir nah dran sind«, sagt Partridge.
»Glaubst du, sie hat sie geschickt?«, fragt Pressia.
»Falls sie sie geschickt hat, weiß sie, dass wir auf dem Weg zu ihr sind«, sagt Bradwell. »Und das ist völlig unmöglich.«
»Wie sonst sollen wir rausfinden, welche Richtung wir hier in den Hügeln einschlagen müssen?«, sagt Partridge. »Sie sind hier, um uns die restliche Wegstrecke zu führen. Es ist Teil ihres Plans. Es hat nur sehr, sehr lange gedauert, bis es so weit war.«
»Aber … jeder hätte diesen Anhänger finden und hochhalten können«, wirft Bradwell ein. »Diese Insekten könnten genauso gut den Feind zu ihr führen.«
Die Zikade in ihrer Handfläche zuckt. Sie beugt sich vor, öffnet die Hand eben weit genug, um durch den Schlitz zwischen ihren Fingern sehen zu können.
Die Zahnräder kreisen schneller. Das Tierchen hebt den Kopf. Aus einem seiner Augen fährt ein Lichtblitz direkt in Pressias linkes Auge. Sie blinzelt. Ihre Augen tränen. Die Zikade unternimmt einen zweiten Versuch.
»Ein mechanisches Insekt mit eingebautem Retina-Scanner«, sagt Partridge staunend.
»Es ist aus dem Davor«, sagt Bradwell. »Abgesehen davon scheint es Pressias Retina nicht zu erkennen.«
Pressia sieht Partridge an. »Versuch du es. Wenn sie von ihr geschickt wurden, wird es dich erkennen.«
Eine Perle in der Mitte seiner Brust flackert. Die Flügel schlagen aufgeregt.
»Es weiß, wer du bist«, sagt Bradwell.
Die mechanische Zikade macht Anstalten abzuheben. Pressia macht ihre Handfläche gerade und hält sie in die Höhe. »Lasst uns sehen, wohin es uns führt.« Wenn diese Insekten in der Tat von ihrer Mutter geschickt wurden – war Freedle dann auch ein Geschenk von ihr?
Das Insekt leuchtet inzwischen hell. Es erhebt sich in die Luft und flitzt zwischen den Zweigen entlang, um ihnen den Weg zu zeigen.
PARTRIDGE
Pulse
Die Zikaden haben sich wieder zerstreut und sind verschwunden, mit Ausnahme der einen, die Pressias und Partridges Retinae gescannt hat. Es ist ein eigenartiges Gefühl, an seiner Netzhaut erkannt zu werden. Vermutlich hat Partridges Mutter so weit vorausgeplant vor den Bombenangriffen, dass sie seine Retinamuster aufgezeichnet hat. Wie sonst sollte es funktionieren? Die Präzision ihrer Voraussicht macht ihn fassungslos. Wenn sie so viel vorbereiten konnte, hätte sie dann nicht auch die Familie zusammenhalten können? Er muss wissen, was in den letzten Tagen vor dem Ende passiert ist.
Andererseits ist ihr Plan auch löchrig. Sie hätten an so vielen Stellen die Fährte verlieren können, dass er sich fragt, ob
Weitere Kostenlose Bücher