Memento - Die Überlebenden (German Edition)
Pressia die Schachtel in die Hand. »Das ist alles, was ich weiß.« Sie will das Geschenk endlich loswerden. Es macht ihr Angst.
Pressia sieht Lyda an und dann die Soldaten ringsum. Die roten Laserpunkte ihrer Waffen sind ausnahmslos auf Pressias Brust gerichtet. Pressias Hände zittern. Sie öffnet die Schachtel, zupft an dem Papier, sieht, was darin liegt, und Partridge sieht, dass sie nichts damit anfangen kann, zumindest im ersten Augenblick. Doch dann blickt sie auf und lässt die Schachtel fallen. Sie ist blass geworden. Sie stolpert rückwärts, dann fällt sie auf die Knie.
Lyda greift nach ihr oder vielleicht der Schachtel, doch der Soldat reißt sie zurück.
»Steh auf!«, herrscht er Pressia an. Pressia blickt zu ihm auf. Der Soldat zielt mit einer Waffe auf ihre Stirn. Dann wiederholt er in ruhigerem Ton: »Los, steh auf. Komm jetzt. Es ist Zeit.«
Und in dieser weicheren, sanfteren Stimme – vielleicht im Rhythmus der Worte – erkennt Partridge die Stimme seines Bruders. So hat er mit ihm gesprochen, als Partridge ein kleiner verschlafener Junge war, eben erst aus dem Schlaf erwacht, noch mit den Laken kämpfend.
Los, steh auf. Komm jetzt. Es ist Zeit.
Sedge.
PRESSIA
Tunnel
Im ersten Moment redet sich Pressia ein, dass ihr Großvater nicht tot ist. Dass sie den Ventilator aus seinem Hals geschnitten, die Wunde genäht und ihn geheilt haben. Pressia liegt immer noch auf den Knien. Sie kann nicht aufstehen. Sie blickt hoch in das Gesicht des Mädchens. Eine Reine. Jemand, den Partridge kennt. Jemand, den er Lyda nennt. »Er ist nicht tot«, flüstert Pressia.
»Ich soll dir sagen, dass das alles ist, was sie noch haben«, sagt Lyda sanft.
Die kleinen Flügel des Ventilators sehen aus wie poliert, als hätte sich jemand Zeit damit gelassen. Pressias Großvater ist tot. Das ist es, was man ihr sagen will. Was es bedeutet. Und was bedeutet das Licht unter dem halbkreisförmigen Fenster, das sie ausgegraben haben? Dass ihre Mutter noch lebt? Funktioniert so die Welt? Endloses Nehmen und Geben? Es ist grausam, unfassbar grausam.
Immer noch auf den Knien packt Pressia eine Handvoll Dreck.
In ihrem Kopf ist eine Bombe. Das Kapitol sieht alles, was sie sieht. Es hört alles, was sie hört. Sie haben alles gehört, was sie und Bradwell in der vergangenen Nacht zueinander gesagt haben – das Geständnis seiner Lüge, sein Wunsch, den Vater mit dem Motor in der Brust zu sehen, ihre Narbe. Sie fühlt sich jeglicher Intimität beraubt. Sie sieht Bradwell an; sein wunderschönes Gesicht ist voller Qual. Sie schließt die Augen. Sie weigert sich, ihnen zu zeigen, was sie sieht. Sie presst ihre Puppenfaust und ihre schmutzige Hand auf die Ohren. Sie will sie aushungern – den Feind in ihrem Kopf, die Leute, die ihren Großvater getötet haben, die sie töten können, indem sie einen Schalter umlegen. Doch das macht es noch schlimmer. Sie bestraft sich, um jemand anderen zu treffen. Tötet mich, will sie flüstern. Tut es einfach. Als wollte sie ihren Bluff aufdecken. Das Problem dabei ist – die anderen bluffen nicht.
Sie sieht Bradwell wieder an. Er starrt sie an, als wollte er ihr verzweifelt helfen. Er sagt ihren Namen, doch sie schüttelt den Kopf. Was kann er tun? Sie haben Odwald Belze getötet, ihren Großvater, und dann hat irgendjemand den Ventilator poliert, der in seinem Hals war, und ihn in hellblaues Papier gewickelt und die passende Schachtel dazu gesucht. Die Leute, die dies getan haben, sind in ihrem Kopf. Das sind einfache, unveränderliche Fakten.
Pressia steht auf, die Faust immer noch voll Dreck. Sie weint lautlos. Tränen rinnen über ihr Gesicht.
Partridge sieht aus wie betäubt. Sein Gesichtsausdruck ist eine Mischung aus Angst und vielleicht gespannter Erwartung. Er sieht das Mädchen Lyda an und den Soldaten neben ihr. Die Geschöpfe, die sie vor ein paar Tagen zusammen mit El Capitán gesehen hat, waren Soldaten wie diese hier. Sie waren früher einmal Menschen, ganz normale Jungen. Ihr Blick fällt auf die Zikade. Das Insekt sitzt auf einem Blatt und hat die Flügel gefaltet. Sein Licht ist erloschen.
Der erste Soldat geht zu Partridge. Pressia versucht zuzuhören, zu verstehen, was er sagt. Ihre Ohren klingeln.
»Hol deine Mutter«, sagt er. »Lass ihren Unterschlupf unberührt. Bring sie zu uns. Wir werden dir das Mädchen geben. Gehorchst du nicht, werden wir das Mädchen töten und deine Mutter selbst holen.«
»Okay«, sagt Partridge schnell. »Machen
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