Memento - Die Überlebenden (German Edition)
um. Sie hat keine andere Wahl. »Ich habe diese Schachtel hier«, sagt sie. »Ich muss sie jemandem bringen.«
Das Wesen dreht sich um und nimmt ihr die Schachtel ab. »Ich werde sie für dich nehmen.«
Sie zögert erneut, doch dann klettert sie auf seinen Rücken und legt die Hände um den dünnen Hals. »Fertig«, sagt sie.
Es rennt los, durch die Wälder, weg von der Stadt. Seine Schritte sind raumgreifend und elegant, und sie bewegen sich nahezu lautlos. Selbst beim Springen über größere Büsche und Sträucher landet es weich. Manchmal bleibt es abrupt stehen, geht hinter Bäumen oder Felsen in Deckung. Lyda hört das laute Bellen eines umherstreifenden Hundes, und dann singt jemand. Jemand singt! Hier draußen, außerhalb des Kapitols, gibt es immer noch Menschen, die singen. Sie ist überrascht.
Dann rennen sie wieder. Die kalte Luft füllt ihre Lungen. Sie hat Mühe zu atmen. Der Schal über ihrem Mund und ihrer Nase und über ihren Ohren erzeugt laute Windgeräusche. Hat es sich so angefühlt, als die Menschen noch auf Pferden geritten sind? Wind und Bäume und Geschwindigkeit? Sie sitzt auf dem Rücken eines Soldaten – die Arme um seinen Hals geschlungen, die Beine um seine Taille, als wäre sie ein kleines Kind. Doch das Wesen ist kein richtiger Soldat. Es ist nicht ganz menschlich. Und sie ist kein Kind. Sie ist ein Lockvogel. Ein Opfer.
Sie hört wieder das elektrische Summen. Es scheint aus allen Richtungen gleichzeitig zu kommen.
Das Wesen hält inne, hebt eine Hand an den Mund und stößt einen Ruf aus. Lyda hört keinen Ton, doch sie weiß, dass es ruft, weil sie die Vibrationen durch seine Rippen hindurch an den Beinen spürt. Das Wesen steht vollkommen reglos.
»Wir warten hier«, sagt es schließlich und geht in die Knie, um Lyda absteigen zu lassen.
Sie richtet sich auf, streckt sich. Sie fühlt sich ein wenig schwindlig. »Du weißt, wonach wir suchen?«, fragt sie.
Das Wesen blickt sie scharf über die Schulter hinweg an, als hätte ihre Bemerkung es irgendwie verletzt. »Natürlich.«
»Entschuldige«, sagt sie kleinlaut.
Sie warten.
»Woher kennst du mich?«, fragt Lyda schließlich.
Es mustert sie mit seinen kleinen Augen. »Ich war«, sagt es.
»Du warst? Was warst du?«
»Ich war«, sagt das Geschöpf. »Und jetzt bin ich nicht.«
Jetzt bemerkt sie, dass das Wesen nicht sehr alt ist, höchstens fünf oder sechs Jahre älter als sie selbst. Ein Gesicht wie dieses hat sie noch nie zuvor gesehen – die massigen Wülste über den Augen, die breiten Kiefer – und doch. Kann es sein, dass es früher jemand anders gewesen ist? »Kenne ich dich?«, fragt sie. »Von der Akademie? Warst du auf der Akademie?«
Das Wesen starrt sie an, als versuchte es, sich an etwas längst Vergangenes zu erinnern.
»Du warst auf der Akademie. Ein Junge. Sie haben dich zu den Spezialkräften gesteckt.« Sie denkt an die kleine Elitetruppe. Das kann nicht sein. Das hat man ihnen nicht angetan. Das wäre unvorstellbar grausam. Sie hebt die Hand. Berührt eine seiner Waffen. Sie kann die Stelle am Arm sehen, wo das Metall unter den Falten seiner Haut verschwindet.
Das Wesen sagt kein Wort. Es rührt sich nicht und sieht Lyda nur wortlos an.
»Was ist mit deiner Familie?«, fragt Lyda. »Weiß deine Familie, dass du hier bist?«
»Ich war«, sagt das Wesen erneut. »Und jetzt bin ich nicht.«
PRESSIA
Licht
Pressia hat die Orientierung verloren. Der Wagen ist in eine Staubwolke gehüllt. Vor ihnen erstreckt sich die kahle, öde Landschaft. Osten. Wo früher einmal ein Nationalpark war. Das ist alles, was sie haben. Und vielleicht ist es nicht einmal eine richtige Fährte. Vielleicht ist es völlig ohne Bedeutung. »Rauchsignale würden helfen«, sagt sie.
Bradwell blickt überrascht auf. »Du hast recht«, sagt er, als hätte er die gleichen Gedanken gehabt. »Das Kapitol würde die Signale sehen, aber irgendwas in der Art könnten wir brauchen.«
»Sag den Text noch mal«, fordert Pressia Partridge auf. »Von der Geburtstagskarte. Von Anfang an. El Capitán hat ihn noch nicht gehört.«
»Es ist zwecklos«, sagt Partridge. »Hier draußen ist nichts. Noch weiter im Osten gibt es nichts außer einem Hügel und dahinter noch mehr totes Nichts. Was machen wir überhaupt hier draußen, außer unser Leben riskieren?«
»Sag den Text auf«, verlangt Bradwell.
Partridge seufzt. »Also schön. Bleib immer im Licht. Folge deiner Seele. Möge sie Flügel haben. Du bist mein Leitstern, wie der,
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