Memento - Die Überlebenden (German Edition)
hält sie fest.
Partridge hört überhaupt nichts.
Lyda ist an seiner Seite. Sie hält ihn am Arm. Ihre Lippen bewegen sich.
El Capitán packt ihn an den Schultern. Partridge ballt die Faust und schlägt nach ihm. El Capitán weicht aus, und Partridge verliert erneut das Gleichgewicht und hält sich an einem großen Felsbrocken fest. Lyda sagt seinen Namen – er kann es von ihren Lippen ablesen. Partridge … Partridge … Er richtet sich auf. Er brüllt ihren Namen. »Lyda!« Er hört seine eigene Stimme nicht.
Jetzt redet auch El Capitán auf ihn ein. Er brüllt geradezu. Partridge sieht, wie die Adern an seinem Hals hervortreten. Helmud schließt die Augen, murmelt die Worte seines Bruders nach.
Dann sieht er wieder zu Pressia. Sieht ihr in die Augen. Pressia ist verwanzt – Augen und Ohren. Das Kapitol sieht zu – sein Vater ist dort. Partridge marschiert geradewegs auf Pressia zu, die immer noch schreit. Er packt sie an den Oberarmen.
Sie schließt die Augen.
»Mach die Augen auf!«, befiehlt er, und der Lärm seiner eigenen Stimme überflutet sein Gehör. »Mach deine gottverdammten Augen auf!«
Pressia sieht Partridge an, und Partridge starrt an seiner Schwester vorbei, durch die Linsen ihrer Augen in die Augen seines Vaters im Kapitol. »Ich weiß, dass du dadrin bist! Ich werde dich finden, und für das hier werde ich dich umbringen! Ich werde dich umbringen!«
Er starrt hinauf in den Himmel. Er fängt an zu zittern. Lässt Pressias Arme los. Als er sie wieder ansieht, ist es das Gesicht seiner Schwester. Sie starrt ihn an, die Wangen verschmiert von Schmutz und Tränen. Es ist seine Schwester.
Der blutige Nebel ist verschwunden.
PRESSIA
Blut
Als Partridge sie losgelassen hat, rennt Pressia zum Leichnam ihrer Mutter. Die untere Hälfte ihres Gesichts ist weg. Sie ist blutüberströmt, doch ein Auge ist klar. Es blinzelt. Aribelle lebt noch. Pressia legt die Hände auf die blutige Brust ihrer Mutter. Drei der sechs kleinen Quadrate pulsieren. Soll sie ihr Herz massieren? »Sie lebt noch!«, schreit Pressia. »Sie lebt noch!«
Bradwell kniet neben ihr nieder. »Sie stirbt, Pressia«, sagt er leise. »Es ist vorbei. Sie wird nicht überleben.«
Partridge ist im Wald, tief unter den Bäumen. Sie kann sein ersticktes Schluchzen hören. Ihre Mutter starrt zu ihr hoch.
»Sie leidet«, sagt El Capitán leise. »Es könnte noch länger dauern.«
Ihre Mutter hat Mühe zu atmen. Ihr Auge blinkt.
Pressia erhebt sich. Bradwell ebenfalls. Sie dreht sich zu El Capitán um.
»Kannst du ihr Gnade gewähren?«, fragt er. »Schaffst du das?«
Pressia starrt El Capitán an, dann ihre Mutter, die anfängt zu zittern. Ihr blutiger Kopf knallt gegen Steine und Dreck. »Gib mir eine Waffe.«
El Capitán reicht ihr sein Gewehr. Sie hebt die Waffe, zielt auf ihre Mutter, atmet ein, halb wieder aus – und schließt die Augen. Sie drückt ab. Sie spürt den Rückstoß im ganzen Körper.
Pressia ist wie erstarrt. Sie starrt ihre Mutter an. Das Zittern hat aufgehört. Die drei kleinen pulsierenden Quadrate sind erloschen. »Sie hat Frieden gefunden«, sagt El Capitán.
Pressia gibt ihm die Waffe zurück. Sie sieht nicht zurück. Sie weiß, woran sie sich erinnern will und woran nicht. Sie setzt sich den Hügel hinunter in Bewegung.
»Los, verschwinden wir!«, sagt Bradwell. »Irgendwo da draußen gibt es noch einen überlebenden Soldaten!«
Blätter, Ranken. Das lockere Erdreich, das unter ihren Schritten nachgibt.
Ich bin hier, denkt Pressia. Ich bin hier und im nächsten Moment und im übernächsten – aber wer bin ich? Pressia Belze? Emi Imanaka? Ist sie jemandes Enkeltochter oder Tochter? Eine Waise, ein uneheliches Kind, ein Bastard mit einer Puppenkopffaust, eine Soldatin?
Sie rennt den Hügel hinunter, und die anderen haben Mühe, mit ihr Schritt zu halten. Vor ihrem geistigen Auge löst sich das Gesicht ihrer Mutter erneut auf, zerplatzen die Köpfe von Sedge und Aribelle, und alles ist voller Blut. Blut überall – ein Film von Blut auf Gras, Nesseln, Ranken, dornigen Zweigen.
Sie rennen alle den Hügel hinunter, in vollem Lauf.
Pressia will die Toten begraben.
Aber nein.
Ein Soldat ist noch auf den Beinen. Er wird sie jagen.
Pressias Großvater war Leichenbestatter. Er hätte sie hübsch zurechtmachen können. Er konnte einen Kopf verdrehen, um einen geplatzten Schädel zu verbergen. Er konnte eine Nase aus einem Stück Knochen nachbilden, er konnte die Haut spannen, er konnte
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