Memoiren 1902 - 1945
- alles hatte in mir nur noch Beziehungen zum Tanz. Es schien mir vom Schicksal bestimmt, daß nur der Tanz, den ich mir hatte ertrotzen müssen, ausschließlich mein Leben bedeuten würde, heute und für alle Zukunft. Und dann dieser Sturz.
Müde und zermürbt stand ich auf dem Bahnsteig und wartete. Ich mußte die Zähne zusammenbeißen. Im Knie begann es wieder zu stechen. Meine Augen glitten über die Farben der Plakate der mir gegenüberliegenden Wand, und plötzlich blieb mein Blick auf einem hängen. Ich sah eine Männergestalt, wie sie einen hohen Felskamin überschreitet. Darunter stand «Berg des Schicksals» - «Ein Film aus den Dolomiten von Dr. Arnold Fanck». Eben noch von traurigen Gedanken über meine Zukunft gepeinigt, starrte ich wie hypnotisiert auf dieses Bild, auf diese steilen Felswände, den Mann, der sich von einer Wand zur anderen schwingt.
Die Bahn fuhr ein und schob sich zwischen das Plakat und mich. Es war die Bahn, auf die ich schon ungeduldig gewartet hatte. Sie fuhr wieder ab und gab mir den Blick auf das Plakat frei. Wie aus einer Trance erwachend, sah ich die Bahn im Tunnel der Kleiststraße verschwinden.
«Der Berg des Schicksals» lief im Mozartsaal, auf der anderen Seite des Platzes. Ich ließ den Besuch bei dem Arzt sausen und ging hinaus auf die Straße. Wenige Minuten später saß ich im Kino. In den
Zeiten des Stummfilms konnte man jederzeit in ein Kino hinein- und wieder hinausgehen.
Schon von den ersten Bildern war ich fasziniert. Berge und Wolken, Almhänge und Felstürme zogen an mir vorüber - ich erlebte eine mir fremde Welt. Noch nie hatte ich solche Berge gesehen, ich kannte sie nur von Postkarten, auf denen sie leblos und starr aussahen. Aber hier im Film wirkten sie lebendig, geheimnisvoll und faszinierend. Nie hatte ich geahnt, daß Berge so schön sein können. Je länger der Film dauerte, um so stärker fesselte er mich. Er erregte mich so sehr, daß ich, noch ehe er zu Ende war, beschlossen hatte, diese Berge kennenzulernen.
Verwirrt und von einer neuen Sehnsucht erfüllt, verließ ich das Kino. In der Nacht konnte ich lange Zeit keinen Schlaf finden. Immer wieder überlegte ich, ob es wirklich nur die Natur war, die mich so packte, oder die Kunst, mit der dieser Film gestaltet war. Ich träumte von wilden Felsnadeln, sah mich über Geröllhalden laufen. Wie ein Symbol erschien mir als Hauptdarstellerin des Films ein steiler Felsturm: die Guglia.
Aus Traum wird Wirklichkeit
E inige Wochen später stand ich das erste Mal vor diesen Felswänden. Ich hatte es in Berlin nicht mehr ausgehalten, nachdem ich mir eine Woche lang den Film jeden Abend angesehen hatte. In Begleitung meines Bruders, den ich, seitdem ich nicht mehr in Zeuthen bei meinen Eltern wohnte, leider nur noch selten sah und der mich jetzt beim Gehen stützen mußte, fuhr ich nach Karersee in die Dolomiten, in der törichten Hoffnung, dort die Darsteller und den Regisseur, die diesen Film gemacht hatten, vielleicht zu treffen. Die Wirklichkeit enttäuschte mich nicht. Ich konnte mich nicht sattsehen an den roten Felsburgen, den grünen Gebirgswäldern, den zartgrünen schlanken Lärchen und dem Karersee, der wie ein buntschillernder Schmetterlingsflügel in dunkelgrüne Tannen eingebettet liegt. Längst vergessene Märchen meiner Kindheit feierten ihre Auferstehung.
Vier Wochen verbrachte ich mit der Entdeckung einer verzauberten Welt und dann, am Tag meiner Abreise im Hotel Karersee, hatte ich - noch dazu in letzter Stunde - eine Begegnung, die ich mir so sehr erhofft hatte. In der Halle entdeckte ich ein Plakat mit der Ankündigung, der Film «Berg des Schicksals» würde an diesem Abend im Hotel vorgeführt werden, der Hauptdarsteller, Luis Trenker, werde bei der Vorführung anwesend sein. Ich konnte es kaum fassen, daß
meine Wünsche so schnell in Erfüllung gehen sollten.
Unruhig verfolgte ich nach dem Abendessen die Vorstellung. Ich kannte fast jede Bildfolge. Trotzdem wirkte der Film noch genauso stark auf mich wie in Berlin. Kaum war er zu Ende und der Saal wieder erleuchtet, humpelte ich nach rückwärts, wo der Filmprojektor aufgebaut war. Daneben stand ein Mann, in dem ich den Hauptdarsteller erkannte.
«Sind Sie Herr Trenker?» fragte ich etwas schüchtern. Sein Blick glitt über meine elegante Kleidung, dann nickte er und sagte: «Dös bin i.» Meine Befangenheit verflog. Meine Begeisterung für den Film, die Berge und die Darsteller sprudelte
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