Memoiren einer Tochter aus gutem Hause
mich gegen seinen Willen in eine Laufbahn begeben, die er ja doch in Wahrheit selbst für mich ausgewählt hatte. Ich fragte mich, worin ich schuldig sei; ich fühlte mich nicht wohl in meiner Haut und spürte Groll im Herzen.
Der beste Augenblick der Woche war die Vorlesung von Garric. Ich bewunderte ihn immer mehr. In Sainte-Marie hieß es, er hätte an der Universität eine glanzvolle Laufbahn haben können; aber er hegte keinerlei persönlichen Ehrgeiz; er unterließ es, seine Doktorarbeit zu beenden, und widmete sich nur mit Leib und Seele seiner Sozialarbeit; er lebte als Asket in einem proletarischen Mietshaus in Belleville. Ziemlich häufig hielt er Propagandavorträge, und durch Jacques’ Vermittlung durfte ich mit meiner Mutter zusammen einem von ihnen lauschen; Jacques führte uns in eine Flucht von prunkvollen Salons, in denen rote Stühle mit vergoldeten Rückenlehnen aufgestellt waren; er besorgte uns Plätze und entfernte sich dann, um vielen Leuten die Hände zu drücken; er schien einfach alle zu kennen: Wie sehr ich ihn beneidete! Es war heiß, ich erstickte in meinen Trauerkleidern und kannte keinen Menschen. Garric erschien; ich vergaß alles Übrige und sogar mich selbst; die Autorität seiner Stimme beherrschte mich im Nu. Mit zwanzig Jahren, erklärte er uns, habe er in den Schützengräben das Glück einer Kameradschaft entdeckt, die alle sozialen Schranken überflutet habe; er gedachte nicht, darauf zu verzichten, nachdem der Waffenstillstand ihn seinen Studien zurückgegeben hatte; die Trennung, die im bürgerlichen Leben zwischen den jungen Angehörigen der besitzenden Schicht und den jungen Arbeitern besteht, empfand er wie eine Verstümmelung. Andererseits war er der Meinung, dass jedermann Recht auf Bildung habe. Er glaubte an die Wahrheit, die Marschall Lyautey in einer seiner marokkanischen Reden geäußert hatte: Über alle Verschiedenheiten hinweg gibt es immer zwischen den Menschen einen gemeinsamen Nenner. Auf dieser Basis beschloss er zwischen Studenten und Söhnen des Volkes ein Austauschsystem zu schaffen, das die Ersteren ihrer egoistischen Abgeschiedenheit, die anderen ihrer Unwissenheit enthöbe. Wenn sie sich kennen- und lieben lernten, würden sie gemeinsam an der Versöhnung der Klassen tätig sein. Denn es ist nicht möglich, behauptete Garric unter lebhaftem Beifallklatschen, dass der soziale Fortschritt aus einem Kampf hervorgeht, dessen Ferment der Hass ist: Er kann sich nur durch das Mittel der Freundschaft vollziehen. Er hatte für sein Programm Kameraden gewonnen, die ihm behilflich waren, in Neuilly ein erstes kulturelles Zentrum zu schaffen. Sie erlangten Unterstützung und Hilfskräfte, die Bewegung weitete sich aus: Jetzt schon standen ihm über ganz Frankreich hin ungefähr zehntausend Anhänger, sowohl junge Männer wie Frauen, und zwölfhundert Lehrkräfte zur Verfügung. Garric war persönlich ein überzeugter Katholik, aber er hatte in sein Programm keinerlei religiöses Apostolat aufgenommen; es gab Ungläubige unter seinen Mitarbeitern; er war der Meinung, dass die Menschen auf einer rein menschlichen Ebene einander helfen sollen. Er schloss mit bebender Stimme, das Volk sei gut, sobald man es gut behandle; wenn die Bourgeoisie sich weiter weigerte, ihm die Hand zu reichen, würde sie einen schweren Fehler begehen, dessen Konsequenzen sie selbst zu tragen habe.
Ich trank seine Worte in mich ein; sie störten mein Weltbild nicht, sie stellten meine Person nicht in Frage, und dennoch hatten sie in meinen Ohren einen absolut neuen Klang. Gewiss, rings um mich her predigte man Aufopferung, aber man setzte ihr den Familienkreis als Grenze; darüber hinaus wurde niemand als Nächster angesehen. Die Arbeiter im Besonderen gehörten einer auf ebenso gefährliche Weise fremden Gattung an wie die Boches und die Bolschewiken. Garric hatte diese Schranken niedergerissen: Es existierte auf Erden nur eine unermessliche Gemeinschaft, deren sämtliche Glieder meine Brüder waren. Alle Grenzen und alle Trennungsstriche vereinen, aus der Enge meiner Klasse entrinnen, aus meiner Haut herausschlüpfen: Diese Parole elektrisierte mich. Ich konnte mir auch nicht vorstellen, dass man wirksamer der Menschheit dienen könne, als indem man ihr geistige Erleuchtung und Schönheit spendete. Ich nahm mir vor, mich in die ‹Équipes sociales› einzureihen. Besonders aber bewunderte ich das Beispiel, das Garric mir gab. Endlich begegnete ich einem Mann, der, anstatt sich
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