Memoiren einer Tochter aus gutem Hause
gehen im Begriffe war: den Menschenrechten, dem Pazifismus, dem Internationalismus, dem Sozialismus. Wenn ich erst ihrem Stande angehörte, würde ich da nicht auch ihren Ideen huldigen? Mein Vater war scharfblickend geworden: Auf der Stelle wurde ich ihm suspekt. Später wunderte ich mich darüber, dass er es vorzog, meine Schwester, anstatt sie vorsichtig auf denselben Weg zu bringen wie mich, den Wechselfällen einer Künstlerinnenlaufbahn auszuliefern: Er ertrug es nicht, zwei Töchter ins feindliche Lager zu treiben.
Morgen würde ich meine Klasse verraten, und schon verleugnete ich mein Geschlecht; auch damit fand mein Vater sich nicht ab: Er hing dem Kultus des wirklichen jungen Mädchens an. Meine Cousine Jeanne verkörperte dieses Ideal: Sie glaubte noch, dass die Kinder in Kohlköpfen auf die Welt kämen. Mein Vater hatte versucht, mich in meiner Unwissenheit zu erhalten; er pflegte früher zu sagen, dass er mir noch, wenn ich achtzehn Jahre alt wäre, die Erzählungen von François Coppée zu lesen untersagen würde; jetzt fand er sich damit ab, dass ich was auch immer las: Aber er machte keinen großen Unterschied zwischen einem aufgeklärten Mädchen und der ‹Garçonne›, deren Porträt Victor Margueritte in einem schamlosen Buch gezeichnet hatte. Hätte ich wenigstens noch den Schein gewahrt! Er würde sich mit einer Tochter, die die gewohnten Bahnen verließ, unter der Bedingung abgefunden haben, dass sie es strikt vermied, auch nach außen hin ungewöhnlich zu wirken: Gerade das gelang mir nicht. Ich war jetzt dem unvorteilhaften Alter entwachsen, ich betrachtete mich von neuem im Spiegel nicht ohne Wohlgefallen; aber in der Gesellschaft machte ich eine kümmerliche Figur. Meine Freundinnen und sogar Zaza spielten mit Leichtigkeit ihre Rolle in der Welt; sie erschienen beim ‹Jour› ihrer Mutter, sie reichten den Tee, sie lächelten und wussten auf angenehme Weise Nichtigkeiten zu sagen; ich lächelte nur mühsam und verstand es nicht, charmant oder geistreich zu sein oder auch nur Konzessionen zu machen. Meine Eltern hielten mir als Beispiel häufig ‹hervorragend kluge› junge Mädchen vor, die gleichwohl in den Salons zu glänzen verstanden. Ich wurde ärgerlich, denn ich wusste, dass ihr Fall mit dem meinen nichts gemeinsam hatte: Sie arbeiteten aus Liebhaberei, während ich berufliche Zwecke verfolgte. In diesem Jahr bereitete ich mich auf die Prüfungen in Literatur, in Latein, in höherer Mathematik vor und lernte zudem noch Griechisch; ich hatte mir selbst dieses Programm aufgestellt; gerade dass es so schwer zu erfüllen war, machte mir Vergnügen; aber damit ich mir fröhlichen Herzens eine solche Anstrengung auferlegen konnte, erwies es sich als unbedingt notwendig, dass Lernen für mich nicht ein Nebenzweck meines Lebens, sondern das Leben selbst war. Die Dinge, von denen rings um mich her die Rede war, interessierten mich nicht. Ich hatte keine umstürzlerischen Ideen; tatsächlich hatte ich überhaupt kaum Ideen; aber den ganzen Tag trainierte ich mich darauf, nachzudenken, zu begreifen. Kritik zu üben, mich ernsthaft selbst zu befragen; ich versuchte der Wahrheit auf den Grund zu gehen: Diese Gewissenhaftigkeit machte mich unfähig zu gesellschaftlicher Konversation.
Alles in allem machte ich, abgesehen von den Augenblicken, in denen ich ein Examen bestanden hatte, meinem Vater keine Ehre; daher legte er denn auch äußersten Wert auf meine Diplome und ermunterte mich, deren recht viele zu erwerben. Sein Zureden schuf in mir die Überzeugung, er sei stolz darauf, eine Frau mit Verstand zur Tochter zu haben; aber im Gegenteil: Nur außergewöhnlicher Erfolg vermochte das peinliche Gefühl zu bannen, das er dieserhalb empfand. Wenn ich gleichzeitig mein Staatsexamen in drei Fächern bestand, wurde ich eine Art von Inaudi, ein Phänomen, das sich aus allen gewohnten Normen heraushob; mein Geschick spiegelte dann nicht mehr den Niedergang der Familie wider, sondern erklärte sich durch die seltsame Schicksalhaftigkeit einer Begabung.
Offenbar machte ich mir den Widerspruch, der meinen Vater zwischen zwei Haltungen schwanken ließ, nicht klar: Aber ich begriff schnell den meiner eigenen Situation. Ich passte mich sehr genau seinen Willensäußerungen an: Er schien darüber fast böse; er hatte mich für das Studium bestimmt und warf mir dennoch vor, dass ich die ganze Zeit meine Nase in die Bücher steckte. Wenn man ihn so missgestimmt sah, hätte man glauben können, ich hätte
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