Memoiren einer Tochter aus gutem Hause
einfach einem gegebenen Los zu fügen, sein Leben selber wählte; mit einem Zweck, einem Sinn begabt, verkörperte sein Dasein eine Idee und bezog daraus die hochgemute Gewissheit seiner Notwendigkeit. Dieses bescheidene Antlitz mit dem lebendigen, aber zurückhaltenden Lächeln war das eines Helden, eines Übermenschen.
Ich kehrte hochgestimmt nach Hause zurück; im Vorzimmer legte ich meinen schwarzen Hut und Mantel ab, als ich mit einem Male unbeweglich stehen blieb; während ich die Augen auf den abgewetzten Moquetteteppich heftete, hörte ich in mir eine gebieterische Stimme: ‹Es ist absolut nötig, dass mein Leben zu etwas dient! Es ist nötig, dass in meinem Leben alles zu etwas dient!› Eine Art von Offenbarung ließ mich zu Stein erstarren: Unendliche Aufgaben lagen vor mir, ich wurde mit meiner ganzen Person für sie angefordert; wenn ich mir die geringste Vergeudung gestattete, so verriet ich meine Mission und tat der Menschheit Schaden. ‹Alles in mir soll dienen›, sagte ich mir mit einem Würgen in der Kehle; es war ein feierlicher Schwur, und ich sprach ihn ergriffen aus, als habe ich unwiderruflich meine Zukunft im Angesicht des Himmels und der Erde verpfändet.
Ich hatte niemals gern meine Zeit verloren; trotzdem warf ich mir vor, planlos darauflosgelebt zu haben, und nutzte von nun an genauestens jeden Augenblick aus. Ich schlief weniger; ich machte nur flüchtig Toilette; es war keine Rede mehr davon, dass ich in den Spiegel schaute; kaum putzte ich mir die Zähne; meine Nägel reinigte ich nie. Ich verbot mir oberflächliche Lektüre, überflüssiges Geschwätz sowie alle Zerstreuungen; ohne den Widerspruch meiner Mutter hätte ich auch die Tennispartien am Samstagvormittag abgesagt. An den Esstisch kam ich mit einem Buch; ich lernte meine griechischen Verben oder suchte die Lösung einer mathematischen Aufgabe. Mein Vater zeigte sich darüber gereizt, ich versteifte mich, worauf er mich widerwillig tun ließ, was ich wollte. Wenn meine Mutter Freundinnen zu Besuch hatte, weigerte ich mich, in den Salon zu gehen. Manchmal wurde sie böse, und ich fügte mich: Aber ich saß dann mit zusammengebissenen Zähnen und einer so wütenden Miene auf der Ecke meines Stuhls, dass sie mich sehr bald wieder gehen ließ. In der Familie und unter meinen engeren Bekannten staunte man über meine Ungepflegtheit, meine Stummheit, meine Unhöflichkeit; ich wurde bald als eine Art Monstrum angesehen.
Ohne jeden Zweifel nahm ich diese Haltung weitgehend aus Ressentiment ein; meine Eltern fanden mich nicht nach ihrem Geschmack, somit wollte ich ihnen wenigstens wirklich zuwider sein. Meine Mutter kleidete mich schlecht, und mein Vater warf mir vor, schlecht gekleidet zu sein. Daraufhin wurde ich vollends zum Aschenbrödel. Sie versuchten nicht, mich zu begreifen: Ich versank in Schweigen und Eigenbrötelei, ich wollte völlig undurchsichtig sein. Gleichzeitig wehrte ich mich gegen die Langeweile. Ich war schlecht begabt dafür, einfach zu resignieren: Indem ich die Strenge, die mein Los war, bis zum Paroxysmus steigerte, machte ich eine Berufung daraus; von den Freuden des Daseins getrennt, wählte ich die Askese; anstatt mich mit leidender Miene durch die Monotonie meiner Tage zu schleppen, ging ich stumm, mit starrem Blick einem unsichtbaren Ziel entgegen. Ich betäubte mich mit Arbeit und erzielte kraft der Ermüdung durch sie einen Eindruck von Fülle. Meine Exzesse hatten auch einen positiven Sinn. Seit langem schon hatte ich mir vorgenommen, der abscheulichen Banalität des Alltags zu entrinnen. Das Beispiel Garrics verwandelte diese Hoffnung in einen Willensbeschluss. Ich weigerte mich, noch länger in Geduld zu verharren; ohne noch auf irgendetwas zu warten, schlug ich die Bahn des Heroismus ein.
Jedes Mal, wenn ich Garric sah, erneuerte ich mein Gelübde. Zwischen Thérèse und Zaza sitzend, wartete ich mit vor Erregung trockenem Mund auf den Augenblick seines Erscheinens. Die Gleichgültigkeit meiner Gefährtinnen war mir unverständlich: Man hätte, so schien es mir, den Schlag aller Herzen vernehmen müssen. Zaza schätzte Garric nicht ohne Vorbehalt; sie ärgerte sich, dass er immer zu spät erschien. ‹Pünktlichkeit ist die Höflichkeit der Könige›, schrieb sie eines Tages an die Tafel. Er setzte sich, kreuzte die Beine unter dem Tisch und ließ dabei graurosa Strumpfhalter sehen: Sie kritisierte diese Nachlässigkeit. Ich begriff zwar nicht, dass sie solche Bagatellen zur Kenntnis nahm,
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