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Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Titel: Memoiren einer Tochter aus gutem Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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ruiniert, seine Träume, seine mythischen Vorstellungen, seine Rechtfertigungen, seine Hoffnungen hinweggefegt. Ich täuschte mich, wenn ich ihn für resigniert hielt; er hatte es nicht aufgegeben, gegen seine neue Lage zu protestieren. Über alles schätzte er gute Erziehung und gepflegte Manieren; dennoch fühlte ich mich, wenn ich mich mit ihm zusammen in einem Restaurant, in der Metro, in einem Eisenbahnzug befand, durch sein lautes Reden, sein lebhaftes Gestikulieren, seine brutale Gleichgültigkeit gegen seine Nachbarn geniert; durch dieses aggressive Auftreten bekundete er, dass er nicht zu ihresgleichen gehörte. In den Zeiten, als er in der ersten Klasse reiste, zeigte er durch seine übertriebene Höflichkeit an, dass er ein Mann von hohem Rang sei; in der dritten wollte er es dadurch dartun, dass er die elementaren Regeln der Höflichkeit verleugnete. Fast überall trug er eine gleichzeitig erstaunte und provokante Miene zur Schau, die andeuten sollte, dass hier nicht der richtige Platz für ihn sei. In den Schützengräben hatte er ganz naturgemäß die gleiche Sprache gesprochen wie seine Kameraden; er erzählte uns amüsiert, dass einer von ihnen erklärt habe: «Wenn Beauvoir ‹Dreck› sagt, klingt das Wort fein.» Um sich diese Feinheit zu beweisen, begann er, immer häufiger ‹Dreck› zu sagen. Er verkehrte jetzt fast nur noch mit Leuten, die er selbst als ‹gewöhnlich› bezeichnete; er selbst bemühte sich, sie an Gewöhnlichkeit sogar noch zu übertreffen; da er bei seinesgleichen nicht anerkannt war, fand er ein bitteres Vergnügen darin, sich von unter ihm Stehenden nunmehr verkennen zu lassen. Bei seltenen Gelegenheiten – wenn wir ins Theater gingen und sein Freund vom ‹Odéon› ihn einer bekannten Schauspielerin vorstellte – fand er seinen ganzen gesellschaftlichen Charme alsbald wieder. In der übrigen Zeit bemühte er sich so erfolgreich, trivial zu erscheinen, dass schließlich niemand außer ihm selbst mehr annehmen konnte, dass er es nicht war.
    Zu Hause stöhnte er über die Härte der Zeiten; jedes Mal, wenn meine Mutter von ihm Haushaltsgeld verlangte, gab es Krach; ganz besonders klagte er über die Opfer, die ihm seine Töchter auferlegten. Wir bekamen den Eindruck, als hätten wir uns in unbescheidener Weise seiner Wohltätigkeit aufgedrängt. Wenn er mir so ungeduldig die wenig vorteilhaften Züge meiner Übergangsjahre vorwarf, so deswegen, weil er bereits anfing, Groll gegen mich zu hegen. Ich war jetzt nicht mehr nur eine Last für ihn: Ich war auch im Begriff, die lebendige Verkörperung seines Versagens zu werden. Die Töchter seiner Freunde, seines Bruders, seiner Schwester würden einmal Damen sein: ich nicht. Gewiss, wenn ich meine Prüfungen bestand, freute er sich über meine Erfolge; sie schmeichelten ihm und ersparten ihm viele Sorgen: Ich würde einmal keine Mühe haben, meinen Lebensunterhalt zu verdienen. Ich begriff nicht, dass in seiner Befriedigung auch bitterer Groll mitschwang.
    «Wie schade, dass Simone nicht ein junger Mann ist: Sie hätte auf die École Polytechnique gehen können!» Ich hatte oft meine Eltern ihr Bedauern darüber mit Seufzen ausdrücken hören. Ein Polytechniker war in ihren Augen etwas Besonderes. Aber mein Geschlecht verbot einen so hohen Ehrgeiz für mich, und mein Vater ersah mich klüglich für den Staatsdienst: Indessen hasste er die Beamten, ‹diese Budgetfresser›, und nicht ohne Ressentiment pflegte er zu mir zu sagen: «Du wirst wenigstens einmal eine Pension bekommen!» Ich verschlimmerte meinen Fall noch, indem ich mich für den Schuldienst entschied; in der Praxis billigte er zwar meine Wahl, aber er war weit davon entfernt, sich auch mit dem Herzen dafür zu entscheiden. Alle Professoren waren für ihn Pedanten. Einer seiner Mitschüler im Collège Stanislas war Marcel Bouteron gewesen, der große Balzac-Kenner; mein Vater sprach mitleidig von ihm: Er fand es lächerlich, dass man sein Leben mit verstaubter Gelehrtenarbeit verbrachte. Gegen die Professoren hegte er außerdem noch einen tiefer liegenden Groll; sie gehörten alle der gefährlichen Sekte an, die sich für Dreyfus eingesetzt hatte: der der Intellektuellen. Von ihrem Bücherwissen berauscht, in ihrem abstrakten Hochmut und in ihren eitlen Ansprüchen auf Universalismus verrannt, opferten diese die konkreten Wirklichkeiten – Vaterland, Rasse, Klasse, Familie – den Hirngespinsten, an denen Frankreich samt der ganzen Zivilisation zugrunde zu

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