Memoiren einer Tochter aus gutem Hause
diese Angriffe sehr verstimmt. Der Konflikt, der unterirdisch zwischen uns schwelte, drohte zum offenen Brand zu werden.
Meine Kindheit, meine Jugend hatten sich ohne Störung vollzogen; von einem Jahr zum anderen hielt ich an meiner Einheit fest. Jetzt schien es mir mit einem Mal, dass ein entscheidender Bruch in meinem Dasein stattgefunden habe; ich erinnerte mich an den Cours Désir, den Abbé, meine Kameradinnen, aber ich vermochte mich nicht mehr in die gelassen Lernende zurückzuversetzen, die ich vor einigen Monaten noch gewesen war: Jetzt interessierte ich mich für meine Seelenzustände weit mehr als für die Außenwelt. Ich begann ein Tagebuch zu führen; ich setzte ihm die Worte voran: ‹Wenn irgendjemand diese Seiten liest, verzeihe ich es ihm nie. Er würde eine hässliche, schlechte Tat begehen!› Ich trug in dieses Buch Stellen aus meinen Lieblingsbüchern ein, ich richtete Fragen an mich selbst, ich analysierte mich und gratulierte mir zu der Wandlung, die sich in mir vollzogen hatte. Worin bestand sie eigentlich? Mein Tagebuch erklärt sie nur mangelhaft; ich übergehe dort viele Dinge mit Schweigen, es fehlte mir wohl auch an Abstand dazu. Doch wenn ich es wiederlese, springen mir trotzdem ein paar Tatsachen in die Augen.
‹Ich bin allein. Man ist immer allein. Ich werde immer allein sein.› Dieses Leitmotiv zieht sich durch das ganze Heft. Niemals hatte ich das gedacht. ‹Ich bin anders›, hatte ich mir zuweilen wohl nicht ohne Stolz gesagt; aber ich sah in meiner Verschiedenheit von den anderen das Unterpfand einer Überlegenheit, die eines Tages die ganze Welt anerkennen würde. Ich hatte nichts von einer Empörerin; ich wollte es zu etwas bringen, etwas tun, den mit meiner Geburt eingeleiteten Aufstieg bis ins Unendliche fortzuführen suchen; ich musste also die ausgefahrenen Bahnen, die abgenutzten Gewohnheiten überwinden, aber ich hielt für möglich, die bürgerliche Mittelmäßigkeit hinter mir zu lassen, ohne mich von der bürgerlichen Gesinnung selbst zu trennen. Die Verehrung der Bourgeoisie für universale Werte war, so glaubte ich damals, ehrlich; ich hielt mich für autorisiert, Traditionen, Gewohnheiten, Vorurteile, alle privaten Vorbehalte zum Besten der Vernunft, des Schönen, des Fortschritts zu liquidieren. Wenn es mir gelänge, ein Dasein, ein Werk zu gestalten, das der Menschheit Ehre machte, würde man mir dazu gratulieren, dass ich den Konformismus mit Füßen getreten hatte: Wie Mademoiselle Zanta würde man mich akzeptieren, mir Bewunderung zollen. Jäh entdeckte ich, dass ich damit einer Täuschung erlegen war; weit davon entfernt, mich zu bewundern, akzeptierte man mich nicht einmal; anstatt mir Kränze zu winden, tat man mich in Acht und Bann. Angst erfasste mich, denn es wurde mir klar, dass man mehr noch als meine gegenwärtige Haltung in mir die Zukunft missbilligte, die ich als Ziel vor mir sah: Diese Art von Ostrazismus aber würde nie enden. Ich stellte mir nicht vor, dass es von den meinen grundverschiedene Kreise gab; einige Individuen hoben sich hier und da aus der Masse heraus; aber ich hatte wenig Aussicht, einem davon zu begegnen; selbst wenn ich eine oder zwei Freundschaften schloss, würden sie mich dennoch über die Ächtung nicht trösten, unter der ich jetzt schon litt; ich war immer verwöhnt, umhegt und beachtet worden; ich liebte es, dass man mich liebte; die Härte meines Geschicks erschreckte mich.
Durch meinen Vater besonders wurde sie mir kundgetan; ich hatte auf seine Unterstützung, seine Sympathie, seine Billigung gezählt und wurde aufs tiefste enttäuscht, denn er versagte sie mir! Eine Kluft lag zwischen meinen ehrgeizigen Perspektiven und seiner morosen Skepsis; seine Moral drang auf Achtung vor den bestehenden Institutionen; die Einzelwesen hatten seiner Meinung nach nichts anderes zu tun auf Erden, als Verdruss zu vermeiden und so gut wie möglich ihr Dasein zu genießen. Mein Vater wiederholte oft, man müsse Ideale haben, und obwohl er die Italiener nicht leiden konnte, beneidete er sie doch, weil Mussolini sie mit solchen versorgte: Mir indessen versuchte er keines zu bieten. So weit aber gingen auch meine Ansprüche ihm gegenüber nicht. In Anbetracht seines Alters und der Lage, in der er sich befand, fand ich seine Haltung normal; ich hätte mir nur gewünscht, dass er auch die meine achtete. Über viele Punkte – den Völkerbund, den Linksblock, den Krieg in Marokko – hatte ich gar keine Meinung und stimmte allem bei,
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