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Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Titel: Memoiren einer Tochter aus gutem Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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was er mir darüber sagte. Unsere Meinungsverschiedenheiten kamen mir derart harmlos vor, dass ich zunächst nichts unternahm, um sie zu verhindern.
    Mein Vater hielt Anatole France für den größten Schriftsteller des Jahrhunderts: In den Ferien hatte er mir
Les dieux ont soif
und
Le Lys rouge
zu lesen gegeben. Ich hatte mich nur wenig dafür begeistern können. Er aber ließ nicht locker und schenkte mir zu meinem achtzehnten Geburtstag die vier Bände der
Vie littéraire
. Der Hedonismus von France empörte mich. Er suchte in der Kunst nichts weiter als egoistisches Vergnügen. ‹Wie niedrig!›, dachte ich. Im gleichen Maße verachtete ich die Plattheit der Romane Maupassants, die mein Vater für Meisterwerke hielt. Ich gab dem höflich Ausdruck, es verstimmte ihn gleichwohl. Er spürte zu deutlich, dass meine Ablehnung noch viele andere Dinge einschloss. Ernstlich böse wurde er, als ich gewisse Traditionen in Frage zu stellen begann. Ungeduldig ließ ich die Mittag- und Abendessen über mich ergehen, die mehrmals im Jahr meine gesamte Verwandtschaft bei der einen oder anderen Cousine zusammenführten; Gefühle allein seien wichtig, behauptete ich, nicht aber die Zufälle der Zusammengehörigkeit durch Bande des Blutes oder der Versippung; mein Vater hatte einen sehr starken Familiensinn und begann jetzt zu denken, es fehle mir an Herz. Ich fand mich mit seiner Auffassung der Ehe nicht ab; weniger streng als das Ehepaar Mabille, gewährte er innerhalb von ihr der Liebe ziemlich großen Raum, ich aber vermochte Liebe und Freundschaft nicht voneinander zu trennen; er seinerseits wollte zwischen diesen beiden Gefühlen nichts Gemeinsames sehen. Ich lehnte strikt ab, dass einer der beiden Ehegatten den anderen ‹betrog›: Wenn sie einander nicht mehr gefielen, sollten sie sich trennen. Ich regte mich darüber auf, dass mein Vater den Ehemann dazu autorisierte, den Vertrag ‹hier und da zu durchlöchern›. In politischer Hinsicht war ich nicht frauenrechtlerisch; die Frage des Stimmrechts ließ mich eher kalt. Aber in meinen Augen waren Männer und Frauen in gleicher Weise selbständige Personen, und ich forderte daher für beide absolute Gegenseitigkeit. Die Haltung meines Vaters dem ‹schönen Geschlecht› gegenüber verletzte mich. Alles in allem genommen war mir die in bürgerlichen Kreisen übliche leichtfertige Auffassung von ‹Verhältnissen›, Amouren, Ehebrüchen äußerst widerwärtig. Mein Onkel Gaston führte mich zusammen mit meiner Schwester und meiner Cousine in eine harmlose Operette von Mirande,
Passionnément
; beim Nachhausekommen gab ich meiner Ablehnung mit einer Leidenschaft Ausdruck, die meine Eltern ungemein überraschte, las ich doch, ohne mit der Wimper zu zucken, Autoren wie Gide und Proust. Die gängige sexuelle Moral schockierte mich gleichzeitig durch ihre Nachsicht und durch ihre Strenge. Mit Staunen ersah ich aus einer Notiz unter Vermischten Nachrichten, dass Abtreibung ein Verbrechen sei: Was sich in meinem Körper zutrug, ging doch niemanden außer mir etwas an; kein Gegenargument brachte mich von meinem Standpunkt ab.
    Unsere Meinungsverschiedenheiten spitzten sich zusehends zu; hätte sich mein Vater etwas toleranter gezeigt, wäre ich in der Lage gewesen, ihn so zu nehmen, wie er war; ich aber war noch nichts, traf jedoch Entscheidungen darüber, was ich werden wollte: Es kam ihm vor, als ob ich dadurch, dass ich mir Meinungen und Geschmacksneigungen, die den seinen zuwiderliefen, zu eigen machte, ihn ausdrücklich verleugnete. Andererseits erkannte er sehr viel deutlicher als ich, in welcher Richtung ich mich treiben ließ. Ich lehnte die Hierarchien, die Werte, die Zeremonien ab, durch welche die Elite sich auszeichnete: Ich selbst war der Meinung, dass meine Kritik einzig darauf gerichtet sei, sie von eitlen Überlebtheiten zu befreien, tatsächlich aber zielte sie auf ihre Entthronung ab. Nur das Einzelwesen kam mir wirklich und wichtig vor, zwangsläufig aber würde ich dazu kommen, der Gesellschaft in ihrer Gesamtheit vor meiner Klasse den Vorrang einzuräumen. Alles in allem war ich diejenige, die die Feindseligkeiten eröffnet hatte, doch ich wusste es nicht; ich begriff nicht, weshalb mein Vater und meine gesamte Umgebung mir ablehnend gegenüberstanden. Ich war in eine Falle gegangen: Die Bourgeoisie hatte mir die Überzeugung beigebracht, ihre Interessen seien mit denen der Menschheit identisch; ich glaubte im Zusammengehen mit ihr zu Wahrheiten gelangen zu

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