Memoiren einer Tochter aus gutem Hause
Marie
,
Le Paradis à l’Ombre des Epées
,
Du sang
,
de la volupté et de la mort
. Viele Bücher schon waren mir durch die Hände gegangen, aber diese gehörten nicht zu der landläufigen Sorte: Ich erwartete von ihnen außergewöhnliche Offenbarungen. Ich war fast erstaunt, als ich sie aufschlug und darin mühelos vertraute Wörter zu entziffern vermochte.
Aber sie enttäuschten mich nicht: Ich war verwirrt, geblendet und entrückt. Abgesehen von seltenen Ausnahmen, die ich erwähnt habe, hielt ich literarische Werke für Monumente, die ich mit mehr oder weniger Interesse durchforschte, zuweilen sogar bewunderte, die mich selbst jedoch in keiner Weise betrafen. Plötzlich sprachen Menschen von Fleisch und Blut unmittelbar zu mir von sich selbst und von mir; sie drückten Bestrebungen und Gefühle der Auflehnung aus, die ich mir selbst nicht hatte formulieren können, in denen ich jedoch die meinen wiedererkannte. Ich schöpfte nun den Rahm von der Bibliothek Sainte-Geneviève ab: Ich las Gide, Claudel, Jammes mit heißen Wangen, pochenden Schläfen und atemlos vor Erregung. Ich graste Jacques’ Bibliothek ab, solange sie nur etwas hergab; ich nahm ein Abonnement bei der ‹Maison des amis des Livres›, wo in einer langen grauen Kutte Adrienne Monnier thronte; ich war so gierig, dass ich mich nicht mit den zwei Bänden begnügte, auf die ich Anspruch hatte: Heimlich ließ ich mehr als ein halbes Dutzend in meiner Tasche verschwinden; schwierig war nur, sie hinterher wieder einzustellen, und ich fürchte sehr, dass ich nicht alle zurückgegeben habe. Wenn es schön war, setzte ich mich im Luxembourggarten in die Sonne und las oder ging hochgestimmt um das Wasserbecken herum und wiederholte mir Sätze, die mir gefallen hatten. Oft ließ ich mich im Arbeitsraum des ‹Institut catholique› nieder, der mir, nur ein paar Schritte von zu Hause entfernt, eine ruhige Zuflucht bot. Dort, an einem schwarzen Pult sitzend, las ich in der Umgebung von frommen Studenten und Seminaristen in langen Soutanen mit Tränen in den Augen den Roman, den Jacques vor allen anderen liebte und der nicht
Le Grand Môle
hieß, sondern
Le Grand Meaulnes
. Ich versenkte mich in die Lektüre wie ehedem ins Gebet. Die Literatur begann in meinem Leben die Stelle einzunehmen, die früher die Religion für sich beansprucht hatte: Sie überflutete mein Dasein ganz und gar und verklärte es. Die Bücher, die ich liebte, wurden eine Bibel für mich, aus der ich Rat und Hilfe schöpfte; ich schrieb mir lange Stellen daraus ab; ich lernte neue Hymnen auswendig, neue Litaneien, Psalmen, Sprüche, Prophezeiungen und gab allen Begebenheiten meiner Existenz eine höhere Weihe, indem ich sie durch Aufsagen dieser heiligen Texte gleichsam sanktifizierte. Meine Ergriffenheit, Tränen, Hoffnungen waren deswegen aber nicht weniger ehrlich gemeint; die Worte und Kadenzen, die Verse, die Zeilen dienten mir nicht zum Zweck der Heuchelei, sondern retteten alle die Erlebnisse meines Innersten, von denen ich zu niemandem zu sprechen wagte, vor dem ewigen Schweigen; zwischen mir und den verschwisterten Seelen, die irgendwo – wenn auch unerreichbar – sicherlich existierten, schufen sie eine Art von Gemeinschaft: Anstatt dass ich meine kleine private Geschichte durchlebte, hatte ich teil an einem großen Epos der Seelen. Monatelang ernährte ich mich dergestalt von Literatur: Aber sie war eben damals auch die einzige Wirklichkeit, zu der ich vorzudringen vermochte.
Meine Eltern runzelten die Stirn. Meine Mutter teilte die Bücher in zwei Kategorien ein: ernsthafte Werke und Romane; Letztere hielt sie für eine wenn auch nicht gerade tadelnswerte, so doch oberflächliche Zerstreuung, und sie missbilligte, dass ich mit Mauriac, Radiguet, Giraudoux, Larbaud und Proust kostbare Stunden verbrachte, die ich darauf hätte verwenden können, mich über Belutschistan, die Prinzessin von Lamballe, die Gepflogenheiten der Aale, die Seele der Frau oder das Geheimnis der Pyramiden nutzbringend zu unterrichten. Nachdem mein Vater meine Lieblingsautoren mit einem Blick gestreift hatte, erklärte er sie sämtlich für prätentiös, manieriert, barock, dekadent und zudem unmoralisch; er machte Jacques lebhafte Vorwürfe, dass er mir unter anderem
Etienne
von Marcel Arland geliehen hatte. Meine Eltern hatten zwar keine Möglichkeit mehr, meine Lektüre ihrer Zensur zu unterwerfen, äußerten aber häufig ihr Missfallen, ohne dabei ein Blatt vor den Mund zu nehmen. Ich war über
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