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Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Titel: Memoiren einer Tochter aus gutem Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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Ein für alle Mal und ebenso radikal wie meine Mutter hatte er mir unrecht gegeben: Er versuchte nicht einmal mehr, mich zu überzeugen, sondern nur, mich bei einem Fehler zu ertappen. Die harmlosesten Gespräche verbargen irgendwelche Fallen: Meine Eltern übersetzten alles, was ich äußerte, in ihre Sprache und unterstellten mir Ideen, die nicht die meinen waren. Ich hatte mich immer gegen den Zwang der Sprache gewehrt; jetzt wiederholte ich mir häufig den Satz von Barrès: ‹Warum Worte, diese brutale Festlegung, die unserem komplizierten Empfinden Gewalt antut?› Sobald ich den Mund auftat, gab ich ihnen eine Handhabe gegen mich und wurde wieder in die Welt zurückgeschleudert, aus der ich nach jahrelangem Bemühen endlich entwichen war, die Welt, in der jedes Ding unwiderruflich seinen Namen, seinen Platz, seine Funktion besaß, wo Hass und Liebe, Gut und Böse so scharf geschieden waren wie Schwarz und Weiß, wo im Voraus alles klassifiziert, katalogisiert, bekannt, begriffen und ohne die Möglichkeit einer Berufung verurteilt war, diese Welt mit den messerscharfen Graten, die unter einem gnadenlosen Himmel lag und die nie der Schatten eines Zweifels streifte. Demgemäß zog ich vor, Schweigen zu bewahren. Nur fanden sich meine Eltern damit nicht ab, sondern behandelten mich als undankbare Tochter. Ich hatte ein viel weniger hartes Herz, als mein Vater meinte, und war sehr betrübt; abends im Bett weinte ich; es kam sogar vor, dass ich vor ihren Augen mich plötzlichem Schluchzen überließ; sie vermerkten es übel und warfen mir erst recht meine Undankbarkeit vor. Ich zog einen Ausweg in Betracht: beschwichtigende Antworten geben, lügen; ich entschloss mich nur schwer dazu, denn ich glaubte, dadurch an mir selbst Verrat zu üben. Ich beschloss, die Wahrheit zu sagen, ganz brüsk, ohne jeden Kommentar: Dadurch würde ich zugleich vermeiden, meine Gedanken zu verschleiern und sie preiszugeben. Es war nicht gerade geschickt. Denn nun reizte ich meine Eltern, ohne wenigstens ihre Neugier zu befriedigen. Tatsächlich gab es keine Lösung, ich war in die Enge getrieben: Meine Eltern konnten weder das, was ich ihnen zu sagen hatte, noch mein Verstummen ertragen; wenn ich es wagte, ihnen Erklärungen zu geben, so gerieten sie erst vollends außer sich. «Du hast eine schiefe Ansicht vom Leben, so kompliziert ist es nicht», sagte meine Mutter zu mir. Zog ich mich aber in mein Schneckenhaus zurück, so lamentierte mein Vater: ich verdorre, ich sei nur noch Gehirn. Es war die Rede davon, mich ins Ausland zu schicken, sie holten rundum Rat ein, sie wussten nicht mehr, was tun. Ich versuchte, mich zu verschanzen; ich ermahnte mich innerlich, vor Tadel, Lächerlichkeit und Missverständnissen keine Angst zu haben: Was konnte mir ausmachen, welche Meinung die anderen von mir hatten noch ob sie berechtigt war oder nicht? Wenn ich zu dieser Gleichgültigkeit gelangte, konnte ich lachen, auch wenn ich dazu keine Lust verspürte, und alles gutheißen, was um mich her an Behauptungen aufgestellt wurde. Dann aber würde ich mich radikal von allem anderen abgeschnitten fühlen; ich sah mir die im Spiegel an, die ich in ihren Augen war: Das war nicht ich; ich selbst war anderswo, nirgends; wo aber sollte ich mich wiederfinden? Ich war vollkommen ratlos. ‹Leben ist lügen›, stellte ich bedrückt bei mir fest; im Prinzip hatte ich nichts gegen die Lüge; praktisch jedoch war es zermürbend, sich unaufhörlich hinter neuen Masken zu verbergen. Manchmal glaubte ich, die Kräfte würden mir versagen und ich müsse mich darein ergeben, zu werden wie die anderen.
    Diese Vorstellung erschreckte mich umso mehr, als ich ihnen jetzt die Feindseligkeit zurückgab, mit der sie mich bedachten. Solange ich mir früher vorgenommen hatte, ihnen nicht ähnlich zu werden, hegte ich ihnen gegenüber Mitleid und keine Animosität; jetzt aber hassten sie in mir, was mich von ihnen unterschied und mir selbst das Allerwichtigste war: Aus Mitleid wurde bei mir Zorn. Wie sicher sie sich fühlten, immer im Recht zu sein! Sie lehnten jeden Wandel und jedes Infragestellen ab, sie leugneten alle Probleme. Um die Welt zu verstehen, um mich selbst zu finden, musste ich mich vor ihnen in Sicherheit bringen.
    Es war schmerzlich verwirrend für mich, während ich glaubte, von Triumph zu Triumph zu schreiten, entdecken zu müssen, dass ich mich in einen Kampf eingelassen hatte; es bedeutete für mich einen Schock, von dem ich mich nur sehr langsam zu erholen

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