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Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Titel: Memoiren einer Tochter aus gutem Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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können, die für alle galten: Kaum aber näherte ich mich diesen, so stellte sie sich gegen mich. Ich fühlte mich schmerzlich bestürzt und verstört. Wer hatte mich in die Irre geleitet? Warum? Und mit welchen Mitteln? Jedenfalls war ich das Opfer einer Ungerechtigkeit, und allmählich wandelte sich mein Groll in offene Rebellion.
    Niemand nahm mich so, wie ich war, niemand liebte mich: Ich selbst werde mich genügend lieben, beschloss ich, um diese Verlassenheit wieder auszugleichen. Früher fühlte ich mich zwar im Einklang mit mir, doch ich war wenig darum bemüht, mich selber kennenzulernen; jetzt war ich darauf aus, mich zu spalten, mich von außen zu sehen. Ich erforschte mich: In meinem Tagebuch unterhielt ich mich mit mir selbst. Ich trat in eine Welt ein, deren Neuheit mich überwältigte. Ich lernte, wodurch innere Not sich von Melancholie unterscheidet und was Verdorren von Abgeklärtheit trennt; ich lernte das Zagen des Herzens kennen, seine Entzückungen, den Glanz der großen Verzichte und die unterirdisch raunende Stimme der Hoffnung. Ich genoss noch einmal einen Rausch wie an jenen Abenden, an denen ich hinter den blauen Hügeln den verfließenden Himmel betrachtete; ich war die Landschaft und der Blick, ich existierte nur durch mich und für mich. Ich beglückwünschte mich zu einem Exil, das mich so hohen Freuden entgegengetrieben hatte; ich verachtete diejenigen, die von ihnen nichts wussten, und staunte, dass ich so lange ohne sie hatte leben können.
    Indessen beharrte ich bei meinem Vorsatz zu dienen. Gegen Renan wendete ich in meinem Tagebuch ein, dass auch der große Mensch nicht ein Zweck an sich ist: Er erhält seine Daseinsberechtigung nur dadurch, dass er beiträgt, das geistige und moralische Niveau der Menschheit im Ganzen zu heben. Der Katholizismus hatte mir die Überzeugung eingeimpft, dass man kein Einzelwesen, und wäre es noch so elend, übersehen darf: Alle hatten das gleiche Recht, das, was ich ihre ewige Essenz nannte, zu verwirklichen. Mein Weg war klar vorgezeichnet: mich vervollkommnen, mich innerlich bereichern und mich in einem Werk ausdrücken, das den anderen zu leben helfen würde.
    Schon kam es mir so vor, als sollte ich das Erlebnis der Einsamkeit, das ich durchzumachen im Begriff war, mitzuteilen versuchen. Im April schrieb ich die ersten Seiten eines Romans nieder. Unter dem Namen Eliane ging ich in einem Park mit Vettern und Cousinen spazieren: Ich las im Grase einen Käfer auf. «Zeig», sagten die andern zu mir. Ich schloss eifersüchtig die Hand. Sie drangen in mich, ich wehrte mich, flüchtete; sie liefen hinter mir her; keuchend, mit klopfendem Herzen lief ich in den Wald hinein; ich entkam ihnen und begann, sacht vor mich hin zu weinen. Bald trocknete ich meine Tränen und murmelte: «Nie wird es jemand erfahren»; ich kehrte langsam nach Hause zurück. ‹Sie fühlte sich stark genug›, schloss ich, ‹ihr einziges Gut gegen Schläge und Schmeichelei zu verteidigen und stets die Hand fest geschlossen zu halten.›
    Diese Selbstverteidigung gab derjenigen meiner Bestrebungen Ausdruck, von der ich am meisten besessen war: mich gegen die anderen verwahren; denn wenn meine Eltern mir ihre Vorwürfe nicht ersparten, so verlangten sie doch Vertrauen von mir. Meine Mutter hatte mir oft gesagt, sie habe unter Großmamas Kälte gelitten und möchte für ihre Person ihren Töchtern eine Freundin sein: Aber wie hätte sie je mit mir vertraulich reden können? Ich war in ihren Augen eine gefährdete Seele, die es zu retten galt: ein Objekt. Die Starrheit ihrer Überzeugungen verbot ihr das kleinste Zugeständnis. Wenn sie mich nach etwas fragte, so nicht, um zwischen uns eine Verständigungsbasis zu suchen; sie sondierte nur. Ich hatte immer den Eindruck, dass sie, wenn sie mir eine solche Frage stellte, gleichsam durchs Schlüsselloch sah. Die bloße Tatsache, dass sie Rechte auf mich in Anspruch nahm, bewirkte, dass ich mich vollends verkrampfte. Sie nahm mir ihren Misserfolg übel und bemühte sich, meinen Widerstand durch ein Maß an Fürsorge zu überwinden, das mich erst recht bis aufs äußerste reizte. «Simone würde sich eher nackt ausziehen als sagen, was in ihrem Kopf vorgeht», pflegte sie in bitterem Ton zu bemerken. Tatsächlich, mein Schweigen war abgrundtief. Selbst meinem Vater gegenüber verzichtete ich auf jegliche Diskussion; ich hatte nicht die leiseste Aussicht, auf seine Meinungen Einfluss zu nehmen, meine Argumente prallten an einer Mauer ab:

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