Memoiren einer Tochter aus gutem Hause
keine Routine wurde ihm hinderlich; in seinen Tagen gab es kein einziges Abweichen von seinem Ziel; er war allein, er war frei, von morgens bis abends handelte, leuchtete, glühte er. Wie gern hätte ich es ihm nachgetan! Ich versuchte in meinem Herzen den Geist der ‹Équipe› zu wecken, ich sah alle Vorübergehenden mit Augen der Liebe an. Wenn ich mit einem Buch im Luxembourggarten saß und jemand eine Unterhaltung mit mir begann, ging ich voll Eifer darauf ein. Früher war mir verboten, mit kleinen Mädchen zu spielen, die ich gar nicht kannte; jetzt machte es mir Vergnügen, die alten Tabus zu missachten. Ich war besonders erfreut, wenn ich es mit ‹Leuten aus dem Volke› zu tun hatte: Ich meinte dann, die Lehren Garrics in die Tat umzusetzen. Seine Existenz war das Licht meiner Tage.
Indessen wurden die Freuden, die ich daraus zog, bald durch Angst getrübt. Ich hörte ihn noch immer von Balzac und Victor Hugo reden: Tatsächlich musste ich mir jedoch eingestehen, dass ich mir Mühe gab, eine tote Vergangenheit lebendig zu erhalten; ich war seine Hörerin, doch seine Schülerin war ich nicht mehr: Ich hatte aufgehört, sein Leben mitzuleben. ‹Und in ein paar Wochen sehe ich ihn nicht mehr!›, musste ich mir sagen. Schon hatte ich ihn verloren. Niemals aber hatte ich etwas verloren, was mir noch kostbar war: Wenn die Dinge mich verließen, hatte ich stets im Voraus aufgehört, auf sie Wert zu legen; diesmal glaubte ich, es werde mir Gewalt angetan, und ich lehnte mich dagegen auf. Nein, sagte ich mir, ich will nicht. Mein Wille galt also nichts. Wie aber sollte ich kämpfen? Ich teilte Garric mit, ich wolle den ‹Équipes› beitreten, er gratulierte mir dazu; tatsächlich beschäftigte er sich aber fast gar nicht mit der weiblichen Sektion. Zweifellos würde ich ihm also nächstes Jahr gar nicht mehr begegnen. Der Gedanke war mir so unerträglich, dass ich mich den verschiedensten Phantasien überließ; würde ich wohl den Mut haben, ihn zu sprechen, ihm zu schreiben, ihm zu sagen, dass ich nicht leben konnte, ohne ihn zu sehen? Und was würde geschehen, fragte ich mich, wenn ich es wirklich wagte? Ich wagte es nicht. ‹Beim Semesterbeginn werde ich ihn schon finden?› Diese Hoffnung schenkte mir etwas Beruhigung. Dann aber ließ ich Garric, während ich gleichzeitig zäh bemüht war, ihn in meinem Leben festzuhalten, in den Hintergrund gleiten. Jacques bekam mehr und mehr Bedeutung für mich. Garric war ein fernes Idol, Jacques aber sorgte sich mit mir um meine Probleme; es war so schön, mit ihm alles zu besprechen. Bald wurde ich mir klar darüber, dass er in meinem Herzen wieder die erste Stelle einnahm.
In jener Zeit genoss ich es mehr, zu staunen, als zu verstehen; ich machte keinen Versuch, Jacques’ Situation zu bestimmen, ihn mir zu erklären. Erst heute rekonstruiere ich seine Geschichte mit einiger Folgerichtigkeit.
Jacques’ Großvater väterlicherseits war mit Großpapas Schwester verheiratet gewesen – jener schnurrbartgezierten Großtante, die in
La Poupée modèle
schrieb. Da er ehrgeizig und ein Spieler war, hatte er sein Vermögen durch gewagte Spekulationen großenteils ruiniert. Die beiden Schwäger hatten sich aus geschäftlichen Gründen leidenschaftlich verstritten, und obwohl Großpapa selbst mit Vehemenz von einem Bankrott in den anderen getaumelt war, erklärte er zu der Zeit, als ich Jacques als meinen Verlobten bezeichnete, im Vollgefühl seiner Tugend: «Niemals wird eine meiner Enkelinnen einen Laiguillon heiraten.» Als Ernest Laiguillon starb, ging die Glasmalereimanufaktur noch einigermaßen gut; aber es hieß in der Familie, dass es dem armen Charlot, hätte er nicht bei jenem grausigen Unfall vorzeitig den Tod gefunden, gewiss gelungen wäre, sie zugrunde zu richten: Er war wie sein Vater sehr unternehmend und von unvernünftigem Vertrauen auf seinen guten Stern beseelt. Der Bruder meiner Tante Germaine übernahm darauf die Leitung der Firma bis zur Volljährigkeit seines Neffen; er führte das Geschäft mit ausgesuchter Vorsicht, denn im Gegensatz zu den Laiguillons waren die Flandins Provinzler mit engen Ideen und dazu geneigt, sich mit bescheidensten Gewinnen zu begnügen.
Jacques war zwei Jahre alt, als er seinen Vater verlor; er hatte Ähnlichkeit mit ihm; von ihm hatte er die goldenen Fünkchen in den Augen, den genüsslichen Mund, die aufgeweckte Miene; seine Großmutter Laiguillon betete ihn förmlich an und behandelte ihn, als er noch kaum
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