Memoiren einer Tochter aus gutem Hause
vermochte; wenigstens aber verhalf mir die Literatur dazu, von tiefster Niedergeschlagenheit doch zu meinem Stolz zurückzufinden. ‹Familien, ich hasse euch! Eng umgrenzte Heime, abgeschlossene Türen.› Diese Anrufung Ménalques gab mir die Sicherheit, dass ich, indem ich mich zu Hause langweilte, einer geheiligten Sache diente. Ich erfuhr bei der Lektüre der ersten Bücher von Barrès, dass der ‹freie Mensch› schicksalsmäßig den Hass der ‹Barbaren› erregt und dass es seine vornehmste Pflicht ist, diesem standzuhalten. Ich nahm nicht ein obskures Unglück duldend hin, sondern kämpfte einen guten Kampf.
Barrès, Gide, Valéry, Claudel: Ich teilte alle Ergriffenheiten der Schriftsteller dieser neuen Generation und vertiefte mich fieberhaft in alle Romane, alle Essays der ‹Jungen›, die gleichwohl älter waren als ich. Es war normal, dass ich mich in ihnen wiedererkannte, denn wir saßen im gleichen Boot. Von bürgerlicher Herkunft wie ich, fühlten sie sich wie ich in ihrer Haut nicht wohl. Der Krieg hatte ihnen die Sicherheit geraubt, ohne sie aus ihrer Klasse zu entführen; sie lehnten sich auf, doch nicht allein gegen ihre Eltern, ihre Familie und die Tradition. Angewidert von allem, was man ihnen während des Krieges ‹eingeredet› hatte, forderten sie für sich das Recht, den Dingen ins Auge zu sehen und sie als das zu bezeichnen, was sie in Wirklichkeit waren; nur beschränkten sie sich, da sie gar nicht die Absicht hatten, die Gesellschaft umzustürzen, auf das eingehende Studium ihrer Seelenzustände: Sie predigten ‹Aufrichtigkeit gegen sich selbst›. Indem sie Klischees und Gemeinplätze von sich wiesen, lehnten sie auch verachtungsvoll die alten Weisheiten ab, deren Bankrott sie hätten konstatieren können; aber sie versuchten nicht, neue Weisheiten zu schaffen; sie zogen es vor, einzig zu behaupten, man dürfe sich nie mit etwas begnügen; sie hoben die Unruhe auf den Schild. Jeder junge Mann, der auf sich hielt, war von Unruhe gezeichnet; während der Fastenzeit hatte im Jahre 1925 Père Sanson in Notre-Dame gegen die ‹Unruhe der Menschen› gepredigt. Aus Widerwillen gegen die alten Regeln der Moral gingen die Kühnsten so weit, Gut und Böse in Frage zu stellen: Sie bewunderten die ‹Dämonen› von Dostojewski, der einer ihrer Abgötter wurde. Einige bekannten sich zu einem verachtungsvollen Ästhetizismus; andere hoben den Immoralismus auf den Schild.
Ich war in genau der gleichen Situation wie diese aus der Bahn geratenen Söhne aus gutem Hause; ich entfernte mich von der Klasse, der ich angehörte: Wohin aber sollte ich gehen? Zu den ‹unteren Schichten› hinabzusteigen kam keinesfalls in Frage; man konnte, man musste ihnen helfen, sich emporzuheben, aber im Augenblick jedenfalls überschüttete ich in meinem Tagebuch wahllos mit dem gleichen Abscheu den Epikurismus eines Anatole France und den Materialismus der Arbeiter, die ‹sich in den Kinos herumdrücken›. Da ich auf Erden keinen mir zusagenden Platz zu entdecken vermochte, nahm ich mir mit Freuden vor, nirgendwo zu verweilen. Auch ich gab mich der Unruhe anheim. Was die Aufrichtigkeit anbetraf, so strebte ich bereits seit meiner Kindheit nach ihr. In meiner Umgebung missbilligte man die Lüge, ging aber doch der Wahrheit sorgfältig aus dem Weg; wenn mich heute das Reden so schwer ankam, so deswegen, weil es mir widerstrebte, die falsche Scheidemünze der Umgangssprache zu benutzen, die rings um mich her im Kurs war. Ich zeigte einen besonderen Eifer, dem Immoralismus zu frönen. Gewiss, ich billigte nicht, dass man aus Eigennutz stahl oder zum bloßen Zweck der Lust sich auf Lagern wälzte; aber soweit Lastern ohne eigennützigen Zweck, aus Verzweiflung, aus Auflehnung – und wohlgemerkt nur in Romanen – gehuldigt wurde, nahm ich sie alle einschließlich Mord und Vergewaltigung hin. Das Böse tun war die radikalste Art, jedes Zusammengehen mit den wohlanständigen Leuten abzulehnen.
Ablehnung der hohlen Worte, der heuchlerischen Moral und der Annehmlichkeit, die sie bot: Eine solche negative Haltung wurde von der Literatur als positive Ethik hingestellt. Aus unserem Unbehagen machte sie etwas Erstrebenswertes: Wir aber suchten ein Heil. Wenn wir unsere Klasse verleugnet hatten, so zu dem Zweck, im Absoluten zu leben. ‹Die Sünde ist die Stelle, die für Gott frei gehalten ist›, schrieb Stanislas Fumet in
Notre Baudelaire
. So war der Immoralismus nicht nur ein Protest gegen die Gesellschaft, sondern
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