Memoiren einer Tochter aus gutem Hause
er ermöglichte auch, den Weg zu Gott zu finden; Gläubige und Ungläubige gebrauchten gern diesen Namen; für die einen bezeichnete er eine unerreichbare Gegenwart, für die anderen angsterregende Abwesenheit: Es bestand kaum ein Unterschied, und es fiel mir nicht schwer, Claudel und Gide unter einen Hut zu bringen. Im Hinblick auf die bürgerliche Welt definierte Gott sich als das
Andere
, und alles, was anders war, gab bereits von etwas Göttlichem Kunde; die Leere im Herzen der Jeanne d’Arc bei Péguy, der Aussatz, der Violaine heimsuchte – in beiden erkannte ich das Dürsten Nathanaëls wieder; von einem übermenschlichen Opfer zu einem Verbrechen um seiner selbst willen war der Weg nicht so weit: Ich erkannte in Sygne die Schwester Lafcadios. Wichtig war nur, sich von der Erde zu lösen, denn damit rührte man schon an das Ewige.
Eine kleine Zahl von jungen Schriftstellern – Ramon Fernandez, Jean Prévost – verließ diese mystischen Bahnen, um den Versuch zu machen, einen neuen Humanismus zu schaffen: Ich folgte ihnen nicht. Im vorhergehenden Jahre hatte ich mich gleichwohl mit dem Schweigen des Himmels abgefunden und mit Ergriffenheit Henri Poincaré gelesen; ich fühlte mich wohl auf Erden; aber der Humanismus, wofern er nicht revolutionär war – derjenige aber, von dem die
Nouvelle Revue française
redete, war es nicht –, schließt ein, dass man zum Universalen vorstoßen und dabei ein Bourgeois bleiben kann: Ich aber stellte einwandfrei fest, dass eine solche Hoffnung Selbstbetrug ist. Künftighin maß ich meinem intellektuellen Dasein nur noch relative Bedeutung bei, da ihm nicht gelungen war, mir die Achtung der anderen einzutragen. Ich wendete mich an eine höhere Instanz, die mir auf fremde Urteile zu verzichten gestattete; ich flüchtete mich in ‹mein tiefes Ich› und beschloss, mein ganzes Dasein ihm allein unterzuordnen.
Diese Wandlung führte mich dazu, die Zukunft in neuem Licht zu sehen. ‹Ich werde ein glückliches, fruchtbares, ruhmvolles Leben haben›, hatte ich mir oft, als ich fünfzehn Jahre alt war, gesagt. Jetzt fasste ich einen Entschluss: ‹Ich werde mich mit dem fruchtbaren Leben begnügen.› Es schien mir immer noch wichtig, der Menschheit zu dienen, aber ich wartete nicht darauf, dass sie mich anerkannte, da ja die Meinung der anderen für mich nicht mehr zählen sollte. Dieser Verzicht fiel mir nicht schwer, denn der Ruhm war im unbekannten Schoße der Zukunft auf alle Fälle nur etwas Ungewisses gewesen. Das Glück hingegen hatte ich gekannt, ich hatte es immer gewollt; ich ergab mich nicht leichten Herzens darein, mich von ihm trennen zu müssen. Wenn ich mich dennoch dazu entschloss, so deshalb, weil ich glaubte, dass es mir doch auf immer versagt bleiben werde. Es war mir nicht möglich, es von Liebe, von Freundschaft, von Zärtlichkeit zu trennen, nun aber ließ ich mich ja auf ein ‹unwiderruflich einsames› Unternehmen ein. Um das Glück noch einmal zurückzuerobern, hätte ich den Rückweg antreten, also versagen müssen: Ich dekretierte daraufhin, dass alles Glück in sich ein Versagen sei. Wie sollte man es mit Unruhe denn in Einklang bringen? Ich liebte den Grand Meaulnes, Alissa, Violaine, die Monique von Marcel Arland. Auf ihren Spuren gedachte ich weiterzuschreiten. Nicht untersagt war hingegen, der Freude Einlass zu gewähren; häufig begegnete sie mir. Ich vergoss in diesem Semester viele Tränen, aber ich erlebte auch große Entzückungen.
Obwohl ich meine Literaturprüfung bestanden hatte, gedachte ich auf die Vorlesungen von Garric nicht zu verzichten: Ich saß also weiterhin jeden Samstagnachmittag ihm gegenüber. Mein Eifer ließ nicht nach: Es kam mir vor, als müsse die Erde für mich unbewohnbar sein, wofern ich nicht jemanden zum Bewundern hätte. Wenn ich einmal ohne Zaza und Thérèse von Neuilly zurückkam, ging ich zu Fuß nach Hause; ich ging die Avenue de la Grande Armée hinunter und amüsierte mich mit einem Spiel, das zu jener Zeit erst bedingt ein Risiko bedeutete, nämlich ganz geradeaus, ohne anzuhalten, die Place de l’Étoile zu überqueren; ich bewegte mich mit großen Schritten durch die Menge hindurch, die auf der Avenue des Champs-Élysées auf und nieder wogte. Ich dachte dabei an den Mann, der, verschieden von allen anderen, in einem unbekannten, beinahe exotischen Viertel in Belleville wohnte. Er war nicht ‹unruhig›, aber er schlief auch nicht: Er hatte seinen Weg gefunden; kein Heim, kein Handwerk,
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