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Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Titel: Memoiren einer Tochter aus gutem Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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immer nur in Zeiten der Erwartung, der Sehnsucht oder des Mitleids mit ihm?› Bei der Vorstellung von einer Liebe, die auch er erwiderte, stieß ich auf Eisesstarre bei mir. Sobald mein Verlangen nach ihm zu schwinden begann, fühlte ich mich vermindert, doch ich schrieb in mein Tagebuch: ‹Ich habe ihn nötig – aber doch nicht nötig, ihn zu
sehen
!› Anstatt mich wie im vorigen Jahr anzuregen, ermüdeten mich jetzt die Gespräche mit ihm. Ich dachte lieber aus der Entfernung an ihn, als dass ich mich unmittelbar ihm gegenüber befand.
    Als ich drei Wochen nach seiner Abreise die Place de la Sorbonne überquerte, sah ich vor dem ‹Harcourt› seinen Wagen stehen. Welch ein Schlag für mich! Ich wusste, dass er sein Leben nicht einzig mit mir verbrachte: Wir sprachen in versteckten Worten darüber, ich bewegte mich nur in einem Teil davon. Aber ich hing doch an dem Gedanken, dass er in unsere Unterhaltungen das Wahrste seiner selbst hineinlegte; dieser kleine Wagen am Rande des Bürgersteigs zeigte mir das Gegenteil an. In diesem Augenblick, in jedem Augenblick existierte Jacques in Fleisch und Blut für andere und nicht für mich; welches Gewicht hatten in der Dichte der Wochen und der Monate unsere schüchternen Begegnungen? Eines Abends kam er zu uns ins Haus; er war reizend; dennoch fühlte ich mich grausam enttäuscht. Weshalb? Ich sah immer weniger klar. Seine Mutter, seine Schwester waren zurzeit in Paris, ich traf ihn nicht mehr allein. Es kam mir vor, als spielten wir miteinander Verstecken, und vielleicht würden wir uns schließlich niemals wiederfinden. Liebte ich ihn denn oder nicht? Würde er mich lieben? Meine Mutter hinterbrachte mir mit etwas süßsäuerlicher Miene eine Bemerkung, die er der seinigen gegenüber gemacht hatte: «Simone ist sehr hübsch; es ist nur schade, dass Tante Françoise sie so schlecht anzieht.» Der kritische Teil ging mich nichts an: Ich behielt nur davon zurück, dass mein Gesicht ihm gefiel. Er war erst neunzehn Jahre alt, er musste sein Studium beenden, den Militärdienst ableisten; es war normal, dass er von Heirat nur in vagen Anspielungen sprach; diese Zurückhaltung stand nicht im Widerspruch zu der Wärme seiner Begrüßung, seinem Lächeln, seinem Händedruck. Er hatte mir geschrieben: ‹Geht dies hier dich an?› In der Zuneigung, die mir Tante Germaine und Titite bewiesen, lag in diesem Jahr etwas von Mitwissertum: Seine Familie wie die meinige betrachteten uns offenbar als Verlobte. Was aber dachte im Grunde er selbst? Er sah manchmal so gleichgültig aus! Ende November aßen wir mit seinen und meinen Eltern in einem Restaurant zu Abend. Er schwatzte, er machte Scherze; seine Gegenwart maskierte nur allzu vollkommen seine innere Abwesenheit: Ich wusste nicht aus noch ein bei diesem Mummenschanz. Die Hälfte der Nacht verbrachte ich in Tränen.
    Einige Tage darauf sah ich zum ersten Male in meinem Leben jemanden sterben: meinen Onkel Gaston, der sehr schnell an einem Darmverschluss verschied. Er lag eine ganze Nacht in Agonie. Tante Marguerite hielt seine Hand und sagte Worte zu ihm, die er nicht mehr hörte. Seine Kinder, meine Eltern, meine Schwester und ich, wir alle waren an seinem Sterbebett versammelt. Er röchelte und spie etwas Schwarzes aus. Als sein Atem stockte, sank sein Unterkiefer herab; eine Binde wurde um seinen Kopf gelegt. Mein Vater, den ich nie hatte weinen sehen, brach in Schluchzen aus. Die Heftigkeit meiner Verzweiflung überraschte alle und auch mich selbst. Ich hatte meinen Onkel sehr geliebt, und ebenso die Erinnerung an unsere Jagdpartien in Meyrignac im Morgengrauen; ich mochte meine Cousine Jeanne sehr gern, und es war mir schrecklich zu denken, dass sie jetzt eine Waise war. Aber weder mein Bedauern noch mein Mitleid rechtfertigten den Sturm, der mich zwei Tage lang durchtobte: Ich konnte den verschwimmenden Blick nicht ertragen, den mein Onkel kurz vor dem Todeskampf seiner Frau zugeworfen hatte; es war ein Blick, in dem das Unwiderrufliche schon vollzogen war. Unwiderruflich, unlösbar: Diese Worte bohrten in meinem Kopf, sodass er mir zu zerspringen drohte; ein anderes trat noch hinzu: unentrinnbar. Vielleicht würde auch ich einmal diesem Blick in den Augen eines Mannes begegnen, den ich lange geliebt hatte.
    Jacques war derjenige, der mich tröstete. Er schien so beeindruckt von meinen verstörten Augen, er zeigte sich so liebevoll, dass ich meine Tränen trocknete. Während eines Mittagessens bei seiner Großmutter

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