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Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Titel: Memoiren einer Tochter aus gutem Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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die ich ihm so formlos zugemutet hatte. ‹Ein überaus schmerzlicher Abend, an dem seine Maske sein Antlitz allzu hermetisch abschloss … Ich möchte mein Herz aus mir herausreißen können›, schrieb ich am folgenden Tage. Ich beschloss, mich zu vergraben und ihn zu vergessen. Acht Tage darauf aber teilte mir meine Mutter, die es durch seine Familie erfahren hatte, mit, Jacques sei wiederum durchs Examen gefallen. Er schien davon sehr mitgenommen zu sein; es wäre nett, wenn man ihn besuchte. Auf der Stelle bereitete ich meine heilenden Verbände, meinen Balsam vor und eilte zu ihm hin. Er sah in der Tat vollkommen vernichtet aus; schlaff in seinem Sessel lehnend, unrasiert, mit offenem Kragen, beinahe verkommen in seinem Äußeren, zwang er sich nicht einmal ein Lächeln ab. Er dankte mir für meinen Brief, ohne große Überzeugung, wollte mir freilich erscheinen. Er sagte immer wieder, er tauge eben zu nichts, es sei nichts an ihm. Den ganzen Sommer hatte er ein törichtes Leben geführt, er verdarb alles, er war sich selbst zuwider. Ich versuchte ihn zu trösten, aber ich war nicht mit dem Herzen dabei. Als ich ging, flüsterte er: «Hab Dank, dass du gekommen bist», in einem so dringlichen Ton, dass es mich tief bewegte; doch kehrte ich deshalb nicht weniger niedergeschlagen nach Hause zurück. Diesmal gelang es mir nicht, mir Jacques’ Ratlosigkeit in erhabenen Farben zu malen; ich wusste nicht recht, was er eigentlich in diesem Sommer gemacht hatte, vermutete aber das Schlimmste: Spiel und Alkohol und das, was ich mir etwas unbestimmt unter ‹Bummeln› vorstellte. Es gab sicher Entschuldigungen für ihn: Aber ich fand es enttäuschend, dass ich Veranlassung hatte, für ihn danach zu suchen. Ich dachte an den Traum von liebender Bewunderung zurück, den ich mir mit fünfzehn Jahren zurechtgelegt hatte und nun mit Trauer im Herzen mit meiner Zuneigung für Jacques verglich: Nein, ich bewunderte ihn nicht. Vielleicht war alle Bewunderung Selbstbetrug; vielleicht würde ich auf dem Grunde aller Herzen nur den gleichen unklaren Tumult vorfinden; vielleicht war Mitleid das einzige mögliche Band zwischen zwei Seelen. Solcher Pessimismus reichte nicht aus, um mir Trost zu gewähren.
    Unsere nächste Begegnung setzte mich neuen Schwierigkeiten aus. Er hatte sich wieder gefasst, er lachte und machte in nachdenklichem Ton ganz vernünftige Pläne. «Eines Tages werde ich heiraten», warf er nebenbei hin. Dieser kurze Satz wirkte verheerend auf mich. Hatte er ihn beiläufig oder mit Absicht ausgesprochen? Es schien mir unmöglich zu ertragen, dass eine andere als ich seine Frau würde: Dennoch stellte ich fest, dass mir der Gedanke an eine Heirat mit ihm unbedingt widerstand. Den ganzen Sommer hatte ich es mir liebevoll ausgemalt; wenn ich aber jetzt eine solche Heirat ins Auge fasste, die meine Eltern glühend wünschten, wäre ich am liebsten sofort davongelaufen. Ich sah darin nicht länger mein Heil, sondern meinen Untergang. Noch tagelang blieb ich von etwas wie Grauen erfasst.
    Als ich Jacques wiedersah, waren Freunde bei ihm; er stellte sie mir vor, und sie fuhren fort, untereinander von Bars und Barmixern, Geldschwierigkeiten, belanglosen kleinen Verwicklungen zu sprechen; es gefiel mir zwar, dass meine Anwesenheit ihre Unterredung nicht störte; dennoch deprimierte mich ihr Ton. Jacques bat mich, bei ihm zu warten, während er seine Freunde mit dem Wagen nach Hause brächte; am Ende meiner Nervenkraft, warf ich mich auf das rote Sofa und brach in Schluchzen aus. Als er zurückkehrte, hatte ich mich so weit wieder beruhigt. Sein Gesicht sah jetzt ganz anders aus, und von neuem schien aus seinen Worten aufmerksame Zärtlichkeit zu sprechen. «Du weißt, solch eine Freundschaft wie die unsrige ist etwas sehr Außergewöhnliches», sagte er zu mir. Er ging mit mir den Boulevard Raspail hinauf, und wir standen lange vor einem Schaufenster, in dem ein weißes Bild von Foujita ausgestellt war. Am folgenden Tage fuhr er nach Châteauvillain, wo er drei Wochen verbringen sollte. Mit Erleichterung dachte ich daran, dass während dieser ganzen Zeit die Süße dieses dämmrigen Abends meine letzte Erinnerung an ihn bleiben würde.
    Indessen ließ meine Erregung nicht nach: Ich verstand mich selbst nicht mehr. Zuweilen war Jacques alles für mich, dann wieder absolut nichts. Ich staunte darüber, dass ich manchmal beinahe Hass gegen ihn empfand. Ich fragte mich: ‹Warum verspüre ich große Zärtlichkeitsregungen

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