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Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Titel: Memoiren einer Tochter aus gutem Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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eine friedliche Liebe, ein gemeinsames Heim für uns, für mich, im Stillen ersehnte. Ich stellte mir keine Fragen mehr. Ich las
L’Adieu à l’adolescence
von Mauriac, lernte lange, gefühlvolle Stellen daraus auswendig und sagte sie mir her, während ich durch die Straßen ging.
    Wenn ich mich auf diese Liebe versteifte, so zunächst deswegen, weil ich durch alle Bedenken hindurch immer eine gerührte Freundschaft für Jacques in mir erhalten hatte; er war charmant, ein Charmeur, und seine etwas launenhafte, aber reale Nettigkeit hatte auf mehr als ein Herz stark gewirkt; meines aber war spezifisch unbewehrt: Ein Tonfall, ein Blick genügte, um ungestüme Dankbarkeit darin zu entfesseln. Jacques hatte aufgehört, mich zu blenden; um Bücher und Bilder zu verstehen, brauchte ich ihn nicht mehr; aber ich war gerührt über sein Vertrauen und seine Anfälle von Bescheidenheit. Alle anderen, die bornierten jungen Leute, die satt in sich ruhenden Erwachsenen, wussten über alle Dinge Bescheid, und wenn sie je einmal sagten: «Das verstehe ich nicht!», so kamen sie niemals auf den Gedanken, sie selbst könnten im Unrecht sein. Wie dankbar war ich Jacques für seine Unsicherheiten! Ich wollte ihm helfen, wie er mir einstmals geholfen hatte. Mehr noch als durch unsere Vergangenheit fühlte ich mich durch eine Art von Pakt an ihn gebunden, durch den sein ‹Heil› mir dringlicher erschien als das meinige. Ich glaubte umso fester an diese Vorbestimmung, als mir kein Mann, ob jung oder alt, bekannt war, mit dem es mir möglich war, auch nur ein paar Worte zu wechseln. Wenn Jacques nicht für mich gemacht war, so war es eben keiner, und ich würde zu einer Einsamkeit zurückkehren müssen, die ich als sehr bitter empfand.
    In den Augenblicken, in denen ich mich von neuem Jacques widmete, richtete ich wieder sein Bild in meinem Herzen auf: ‹Alles, was mir von Jacques kommt, erscheint mir wie Spiel, Mangel an Mut, wie Feigheit – und dann erkenne ich die Wahrheit dessen, was er mir eben gesagt hat.› In seiner Skepsis bekundete sich seine Hellsichtigkeit; im Grunde war ich diejenige, die es an Mut fehlen ließ; wenn ich mir die traurige Relativität der menschlichen Zwecke zu vertuschen suchte; er hingegen wagte sich einzugestehen, dass kein Zweck ein Bemühen lohnte. Er verlor seine Zeit in den Bars? Er floh dorthin vor seiner Verzweiflung, und es kam hier und da vor, dass er an diesen Stätten der Poesie begegnete. Anstatt ihm sinnloses Verschleudern vorzuwerfen, musste man seine Verschwendungsfreudigkeit bewundern, er glich jenem König von Thule, den er so gern zitierte, jenem König, der nicht zauderte, seinen schönsten goldenen Becher um eines Seufzers willen in das Meer zu werfen. Ich selbst war unfähig zu solchen Raffinements, aber das gab mir nicht das Recht, ihren Wert zu verkennen. Ich redete mir ein, Jacques werde sie eines Tages in einem Werk ausdrücken. Er entmutigte mich nicht ganz: Von Zeit zu Zeit kündigte er mir an, er habe einen fabelhaften Titel gefunden. Man müsste sich gedulden, ihm Kredit gewähren. So wusste ich von der Enttäuschung zum Enthusiasmus immer wieder in glühendem Hoffen eine Brücke zu bauen.
    Der Hauptgrund meines zähen Beharrens lag darin, dass mein Leben außerhalb dieser Liebe mir zum Verzweifeln leer und eitel erschien. Jacques war nur er selbst; aus der Entfernung gesehen aber wurde er alles für mich: alles, was ich nicht besaß. Ich verdankte ihm Freuden und Schmerzen, deren Heftigkeit mich als Einziges vor der trostlosen Langeweile rettete, in der ich zu versinken begann.
     
    Zaza kehrte Anfang Oktober nach Paris zurück. Sie hatte ihre schönen schwarzen Haare abschneiden lassen; ihre neue Frisur legte in gefälliger Weise ihr etwas schmales Antlitz frei. Noch ganz im Stil von Saint-Thomas d’Aquin gekleidet, opulent, wenn auch ohne Eleganz, trug sie immer kleine Glockenhüte, die sie bis über die Augenbrauen zog; sehr oft hatte sie auch Handschuhe an. An dem Tage, an dem ich sie wiedersah, verbrachten wir den Nachmittag an den Seinequais und in den Tuilerien; sie zeigte ihre in letzter Zeit gewohnte ernste, ja sogar ein wenig traurige Miene. Sie erzählte mir, dass ihr Vater die Stellung gewechselt habe; Raoul Dautry hatte den Posten eines Chefingenieurs der Staatsbahn erhalten, auf den Monsieur Mabille gerechnet hatte; aus Groll darüber hatte er die Angebote angenommen, die ihm schon seit längerer Zeit von Citroën gemacht worden waren: Er würde dort enorm

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