Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Titel: Memoiren einer Tochter aus gutem Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
Vom Netzwerk:
übersetzen, ‹mein Buch›. Ich musste mich für die Prüfungen im Juni vorbereiten und hatte keine Zeit; aber ich rechnete mir aus, dass ich im nächsten Jahr über Muße verfügen würde, und nahm mir vor, dann ohne Verzug mein Werk in Angriff zu nehmen: ein Werk, beschloss ich, in dem ich alles, aber auch
alles
sagen würde – was einen sonderbaren Kontrast zu der Dürftigkeit meiner Erfahrung bildete! Die Philosophie hatte mich in meiner Neigung bestärkt, die Dinge in ihrem Wesen, an der Wurzel, von dem Gesichtspunkt der Totalität aus anzugehen, und da ich mich in lauter Abstraktionen bewegte, glaubte ich, auf entscheidende Art die Wahrheit der Welt entdeckt zu haben. Von vornherein kam mir zwar zuweilen der Verdacht, dass sie über das noch hinausreichte, was ich von ihr kannte, doch geschah das nur selten. Mein Überlegenheitsgefühl über die anderen Leute bezog ich gerade daher, dass ich mir nichts entgehen ließ: Mein Werk würde seinen Wert von diesem außergewöhnlichen Privileg her erhalten.
    Von Zeit zu Zeit kam mir ein Bedenken: Ich erinnerte mich dann daran, dass alles eitel ist: Ich ging darüber hinweg. In Phantasiedialogen mit Jacques wies ich sein ewiges ‹Wozu› zurück. Ich hatte nur ein Leben zu leben, ich wollte, dass es ein Erfolg würde, niemand sollte mich daran hindern, nicht einmal er. Ich gab den Gesichtspunkt des Absoluten nicht auf, da aber jedenfalls von dieser Seite her alles verloren war, beschloss ich, mich nicht mehr darum zu kümmern. Ich liebte sehr das Wort von Lagneau: ‹Meine einzige Stütze ist meine unbedingte Verzweiflung.› Da ich nach Feststellung dieser Verzweiflung doch weiter existierte, musste ich mich auf der Erde so gut wie möglich zurechtfinden, das heißt tun, was mir gefiel.
    Ich war etwas erstaunt darüber, wie leicht ich ohne Jacques auskam, aber Tatsache ist, dass er mir gar nicht mehr fehlte. Meine Mutter berichtete mir Ende April, er sei erstaunt, mich gar nicht mehr zu sehen. Ich ging und schellte bei ihm: Es trug sich eigentlich gar nichts zu. Es kam mir vor, als sei diese Zuneigung keine Liebe mehr, sie bedrückte mich sogar in gewisser Weise. ‹Ich habe nicht mehr den Wunsch, ihn zu sehen. Ich kann es nicht ändern, dass er mich ermüdet, selbst wenn er sich noch so einfach gibt.› Er schrieb nicht mehr an seinem Buch; er würde es niemals schreiben. «Es würde mir vorkommen, als prostituierte ich mich», gab er mir hochmütig zu verstehen. Eine Autofahrt, eine Unterhaltung, die ihn ernstlich mit sich selber uneinig zeigte, brachte mich ihm wieder näher. Alles in allem, sagte ich mir, habe ich nicht das Recht, ihm eine Inkonsequenz vorzuwerfen, die im Leben selbst begründet ist: Es treibt uns zugleich auf Zwecke hin und deckt uns doch ihre Nichtigkeit auf. Ich hielt mir tadelnd meine Strenge vor. ‹Er ist besser als sein Leben›, stellte ich bei mir fest. Aber ich fürchtete, sein Leben könne auf sein Wesen abfärben. Manchmal durchzuckte mich eine Ahnung: ‹Ich habe ein schlechtes Gefühl, sobald ich an dich denke; ich weiß nicht, weshalb dein Leben tragisch ist.›
     
    Der Junitermin kam näher, ich war bereit dafür und des Arbeitens müde; so spannte ich ein wenig aus. Ich unternahm meine erste Eskapade. Unter dem Vorwand einer Wohltätigkeitsveranstaltung in Belleville rang ich meiner Mutter Ausgang bis Mitternacht und zwanzig Franc ab. Ich erstand mir einen Galerieplatz für eine Vorführung des Russischen Balletts. Als ich zwanzig Jahre später plötzlich um zwei Uhr nachts allein mitten auf dem Times Square stand, war ich nicht geblendeter als an jenem Abend dicht unter dem Dach des ‹Théâtre Sarah-Bernhardt›. Seide, Pelze, Diamanten, Wohlgerüche, und rings um mich her ein grellbuntes, schwatzendes Publikum. Wenn ich mit meinen Eltern oder Mabilles ausging, lag immer eine unsichtbare Trennungsschicht zwischen der Welt und mir: Hier aber war ich rings von einem der großen nächtlichen Feste umspült, deren Widerschein ich so oft am Himmel wahrgenommen hatte. Ich hatte mich ohne Wissen aller mir bekannten Leute dort eingeschlichen, und von denen, die mich dicht am Ellbogen streiften, kannte mich kein Einziger. Ich fühlte mich gleichzeitig unsichtbar und allgegenwärtig: eine Elfe! An jenem Abend wurde
La Chatte
von Saguet,
Le Pas d’acier
von Prokofjew und
Le Triomphe de Neptune
von ich weiß nicht mehr wem aufgeführt. Dekorationen, Kostüme, Musik und Tanz – alles erstaunte mich. Ich glaube, seitdem ich fünf

Weitere Kostenlose Bücher