Memoiren einer Tochter aus gutem Hause
aller Leidenschaft. Er sagte, ich hätte mich allzu überstürzt der Verzweiflung in die Arme geworfen, und ich hielt ihm vor, er klammere sich an vergebliche Hoffnungen: Alle Systeme hinkten. Eines nach dem andern zerpflückte ich ihm; er gab bei jedem einzelnen nach, vertraute aber dennoch auf die menschliche Vernunft.
Im Grunde war er gar nicht ein solcher Rationalist. Viel stärker als ich sehnte er sich noch immer nach dem verlorenen Glauben zurück. Er war der Meinung, wir hätten den Katholizismus nicht gründlich genug erforscht, um uns das Recht anzumaßen, ihn einfach zu verwerfen: Man müsste die Prüfung noch einmal von neuem vornehmen. Ich wendete ein, dass wir den Buddhismus ja noch weit weniger kannten: Weshalb waren wir für die Religion unserer Mütter derart voreingenommen? Er sah mich kritisch und durchdringend an und beschuldigte mich, die Suche nach Wahrheit der Wahrheit vorzuziehen. Da ich im tiefsten Grunde eigensinnig, auf der Oberfläche aber sehr beeinflussbar war, lieferten mir diese Bezichtigungen zusammen mit denen, die andeutungsweise Mademoiselle Lambert und Suzanne Boigue gegen mich vorgebracht hatten, einen Vorwand zur Beunruhigung. Ich suchte einen gewissen Abbé Beaudin auf, von dem sogar Jacques mit Achtung gesprochen hatte und der auf das Wiederflottmachen festgefahrener Intellektueller spezialisiert war. Zufällig hatte ich ein Buch von Benda in der Hand, und der Abbé begann damit, diesen mit Brillanz zu attackieren, was mir nicht gerade weiterhalf. Dann tauschten wir ein paar nicht sonderlich gehaltvolle Ideen aus. Ich verließ ihn voller Beschämung über diesen Schritt, dessen Vergeblichkeit ich vorausgesehen hatte, denn ich wusste, dass mein Unglaube felsenfest verankert war.
Ich bemerkte rasch, dass trotz aller verwandten Züge zwischen Pradelle und mir dennoch eine Kluft bestand. In seiner rein zerebralen Unruhe erkannte ich meine eigenen inneren Zerrissenheiten nicht wieder. Ich hielt ihn für einen ‹braven Scholaren ohne Komplikation und ohne Geheimnis›. Wegen seines Ernstes und seiner philosophischen Veranlagung schätzte ich ihn höher ein als Jacques; aber Jacques verfügte über etwas, was Pradelle nicht hatte. Wenn ich in den Alleen des Luxembourggartens umherwandelte, sagte ich mir, dass alles in allem, wenn einer von ihnen mich zur Frau gewollt hätte, keiner von beiden mir recht gewesen wäre. Was mich noch immer mit Jacques verband, war die Tatsache, dass Jacques von seinem Milieu durch einen klaffenden Riss getrennt war; aber man baut nicht auf einem Riss im Gestein, ich jedoch wollte ja das Gebäude meines Denkens, meines Werkes errichten. Pradelle war wie ich durch den Intellekt bestimmt, aber blieb doch im Einvernehmen mit seiner Klasse, seinem Leben, er akzeptierte durchaus die bürgerliche Gesellschaft: Ich konnte mich mit seinem lächelnden Optimismus ebenso wenig befreunden wie mit dem Nihilismus Jacques’. Im Übrigen wirkte ich auf beide eher erschreckend, wiewohl aus verschiedenen Gründen. ‹Heiratet man wohl eine Frau wie mich?›, fragte ich mich nicht ohne Melancholie, denn ich trennte damals die Begriffe Liebe und Heirat noch nicht. ‹Ich bin sicher, dass ein Mann, der mir wirklich alles, der im tiefsten mein Bruder und meinesgleichen wäre und alles verstände, gar nicht existiert.› Was mich von allen anderen trennte, war eine gewisse Heftigkeit, die ich nur bei mir selber antraf. Ein Vergleich mit Pradelle bestärkte mich in der Überzeugung, ich sei zur Einsamkeit bestimmt.
Soweit tatsächlich nur von Freundschaft die Rede war, verstanden wir uns jedoch gut. Ich schätzte seine Wahrheitsliebe, seine Strenge; er wusste Gefühle und Gedanken auseinanderzuhalten; unter seinem unbestechlichen Blick wurde ich mir darüber klar, dass mir oft meine Seelenzustände den Ersatz für Ideen geliefert hatten. Er zwang mich nachzudenken, die Dinge ganz genau klarzustellen: Ich rühmte mich nicht mehr, alles zu wissen, ganz im Gegenteil. ‹Ich weiß nichts, nichts; ich habe nicht nur keine Antwort bereit, sondern weiß nicht einmal eine Frage zu stellen.› Ich nahm mir vor, keiner Selbsttäuschung mehr zu erliegen, und ich bat Pradelle, mir dabei zu helfen, dass ich mich vor allen Lügen bewahrte: Er solle mein ‹lebendes Gewissen› sein. Ich beschloss, die nächsten Jahre darauf zu verwenden, mit zähem Bemühen nach der Wahrheit zu suchen. ‹Ich werde arbeiten und mich unermüdlich plagen, um sie schließlich zu finden.› Pradelle erwies
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