Memoiren einer Tochter aus gutem Hause
löscht, erschreckt euch, und ihr wollt nichts davon wissen: Doch das gerade ist Leben!› Sie waren nicht weit von den Surrealisten entfernt, von denen viele im Begriff standen, sich zur Revolution zu bekehren. Auch mich verlockte sie, doch nur unter ihrem negativen Aspekt. Auch ich begann zu wünschen, dass die Gesellschaft einer radikalen Umwälzung unterzogen würde; jedoch begriff ich sie nicht besser als zuvor. Ich blieb auch gleichgültig gegen die Ereignisse, die sich in der Welt abspielten. Alle Zeitungen, sogar
Candide
, widmeten der Revolution in China ganze Spalten: Ich zuckte nicht mit der Wimper.
Indessen begannen meine Gespräche mit Nodier, mir den Geist aufzulockern. Ich stellte ihm viele Fragen. Er gab mir bereitwillig Antwort, und ich fand so großen Nutzen in diesen Unterhaltungen, dass ich mich manchmal traurig fragte: ‹Weshalb ist es nicht mein Los, einen Mann wie diesen zu lieben, der meine Neigung für Ideen und für das Studium teilt und an dem ich mit dem Verstand ebenso sehr hängen würde wie mit dem Herzen?› Ich bedauerte sehr, als er sich Ende Mai auf dem Hofe der Sorbonne von mir verabschiedete. Er ging nach Australien, wo er eine Stelle bekommen hatte und wohin ihm die kleine Dunkle folgte. Als er mir die Hand drückte, sagte er mit tiefbewegter Miene: «Ich wünsche Ihnen viel Gutes.»
Anfang März bestand ich mit ‹sehr gut› meine Prüfung in Geschichte der Philosophie, und bei dieser Gelegenheit machte ich die Bekanntschaft einer Studentengruppe der Linken. Sie forderten mich auf, eine Petition zu unterzeichnen: Paul Boncour hatte den Plan einer Militärgesetzgebung eingereicht, durch die der Wehrdienst der Frauen verhängt werden sollte, und die Zeitschrift
Europe
eröffnete einen Protestfeldzug. Ich war recht verlegen. Was die Gleichheit der Geschlechter anbetraf, so war ich dafür; und musste man nicht im Falle der Gefahr alles tun, um sein Vaterland zu verteidigen? «Immerhin», sagte ich, als ich den Text des Projektes gelesen hatte, «handelt es sich doch um guten Nationalismus.» Der dicke junge Mann mit wenig Haar auf dem Kopf, der die Petition herumtrug, hohnlachte nur: «Da müsste man erst einmal wissen, ob der Nationalismus etwas Gutes ist!» Das war eine Frage, die ich mir niemals gestellt hatte: Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte. Man erklärte mir aber, dass das Gesetz zu einer allgemeinen Mobilisierung der Gewissen führen würde, und das gab den Ausschlag für mich: Die Freiheit des Denkens war mir auf alle Fälle heilig; außerdem unterschrieben alle anderen, also tat ich es auch. Weniger lange ließ ich mich bitten, als es sich um das Gnadengesuch für Sacco und Vanzetti handelte; ihre Namen sagten mir nichts, aber man versicherte mir, dass sie unschuldig seien; auf alle Fälle war ich zudem gegen die Todesstrafe.
Damit hatte meine politische Tätigkeit auch schon wieder ein Ende, und meine Vorstellungen blieben nach wie vor nebelhaft. Ich wusste nur eines: Ich hasste die äußerste Rechte. Eines Nachmittags war eine Schar von Schreiern in den Lesesaal der Sorbonne mit den Rufen eingedrungen: «Fremde und Juden raus!» Sie trugen große Stöcke in der Hand und hatten rasch ein paar Studenten mit dunklem Teint hinausbefördert. Dieser Triumph der Rohheit und der Dummheit hatte mich in Schrecken und Zorn versetzt. Ich verabscheute den Konformismus und alle Obskurantismen, ich hätte gewünscht, dass die Vernunft alle Menschen regiere; aus diesem Grunde interessierte mich die Linke. Doch alle Etiketten missfielen mir, ich hatte nicht gern, wenn man die Leute katalogisierte. Mehrere meiner Mitstudenten waren Sozialisten; in meinen Ohren klang dieses Wort nicht gut; ein Sozialist konnte niemals ein Suchender sein; er verfolgte gleichzeitig profane und begrenzte objektive Zwecke: Von vornherein war diese Mäßigung mir gründlich unsympathisch. Weit mehr zog der Extremismus der Kommunisten mich an. Aber ich hatte den Verdacht, dass sie ebenso dogmatisch und stereotyp sein möchten wie die Seminaristen. Gegen den Mai hin befreundete ich mich immerhin mit einem ehemaligen Schüler von Alain, der Kommunist war: In jener Zeit hatte diese Verbindung nichts Verblüffendes. Er rühmte mir die Vorlesungen Alains, setzte mir seine Ideen auseinander und borgte mir seine Bücher. Er machte mich auch mit Romain Rolland bekannt, und entschlossen bekannte ich mich nunmehr zum Pazifismus. Mallet interessierte sich auch noch für viele andere Dinge: für
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