Memoiren einer Tochter aus gutem Hause
Jahre alt war, hatte ich den Eindruck eines solchen Glanzes nicht mehr gehabt.
Ich unternahm solche Ausflüge wieder und wieder. Ich weiß nicht, durch welche Mogelei ich mir ein bisschen Geld verschaffte, auf alle Fälle mussten wieder die ‹Équipes› als Alibi herhalten. Zweimal noch ging ich zum Russischen Ballett; ich hörte mit Staunen Herren in schwarzem Frack den
König Ödipus
von Strawinsky auf den Text von Cocteau singen. Mallet hatte mir von den weißen Armen Damias und von ihrer Stimme erzählt: Ich ging ins ‹Bobino›, um sie zu sehen und zu hören. Fantaisisten, Chansonniers, Equilibristen, alles war mir neu, und allem applaudierte ich.
An den letzten Tagen vor den Prüfungen, zwischen den schriftlichen Arbeiten, während man auf die Resultate wartete, schlugen manche meiner Kameraden – darunter Jean Mallet, Blanchette Weiß – die Zeit im Hof der Sorbonne irgendwie tot. Man spielte Ball, beschäftigte sich mit Scharaden oder Schattenspielen, man tauschte den letzten Klatsch aus, man diskutierte. Ich mischte mich unter diese Schar, fühlte mich aber doch der Mehrzahl der Studierenden, mit denen ich mich abgeben musste, recht fern: Die Freiheit ihrer Sitten stieß mich ab. Theoretisch mit allen Perversitäten vertraut, betätigte ich in Wirklichkeit eine extreme Prüderie. Wenn man mir sagte, der und jene ‹gehörten zusammen›, verschloss sich etwas in mir. Als Blanchette Weiß mir einen berühmten ‹Normalien›, einen Zögling des Lehrerseminars, zeigte und mir anvertraute, er sei leider ‹anders›, schauderte es mich. Studentinnen, die sich außerhalb der Sitten stellten und besonders diejenigen, die ‹leider anders› waren, flößten mir Grauen ein. Ich gestand mir ein, dass diese Reaktionen sich nur durch meine Erziehung erklärten, aber ich lehnte ab, sie ernstlich zu bekämpfen. Derbe Späße, rohe Wendungen widerten mich an. Indessen verspürte ich auch keine größere Sympathie für die kleine Gruppe, in die Blanchette Weiß mich einführte; sie war sehr gesellig und kannte ein paar ‹Normaliens› aus guter Familie, die aus Protest gegen den verwahrlosten Stil der Zöglinge ihres Instituts besonders steife Manieren pflegten. Sie luden mich ein, mit ihnen in den Hinterstuben von Bäckereien Tee zu trinken: In Cafés gingen sie nicht und hätten dorthin jedenfalls niemals junge Mädchen mitgenommen. Ich fand es schmeichelhaft, dass ich sie interessierte, warf mir aber selbst diese Regung der Eitelkeit vor, denn für mich zählten sie zu den ‹Barbaren›: Sie interessierten sich allein für Politik, gesellschaftlichen Erfolg und ihre künftige Karriere.
Eines Nachmittags widersprach ich auf dem Hof der Sorbonne – ich weiß nicht mehr, in welchem Punkte – einem jungen Mann mit langem, düsterem Gesicht: Er sah mich überrascht an und erklärte, er finde nichts mehr, was er mir entgegenhalten könne. Von da an kam er jeden Tag an die Porte Dauphine, um unseren Dialog fortzusetzen. Er hieß Michel Riesmann und beendete sein zweites Jahr als ‹khâgne›. Sein Vater war eine wichtige Persönlichkeit in der Sphäre der großen offiziellen Kunst. Michel bezeichnete sich als Schüler von Gide und huldigte dem Kultus der Schönheit. Er glaubte an die Literatur und war gerade dabei, einen kleinen Roman zu beenden. Er war schockiert, als ich ihm meine Bewunderung für den Surrealismus bekannte. Er kam mir veraltet und langweilig in seinen Ansichten vor, aber vielleicht verbarg sich eine Seele hinter seiner gedankenvollen Hässlichkeit; außerdem ermunterte er mich zum Schreiben, und ich brauchte Ermutigung. Er schickte mir einen zeremoniellen, künstlerisch kalligraphierten Brief, um mir den Vorschlag zu machen, wir wollten während der Ferien miteinander korrespondieren. Ich ging darauf ein. Auch Blanchette Weiß und ich kamen überein, einander zu schreiben. Sie lud mich zum Tee zu sich ein. Ich aß Erdbeertorte in einer luxuriösen kleinen Wohnung an der Avenue Kléber, und sie lieh mir prächtig in Ganzleder gebundene Gedichtbände von Verhaeren und Francis Jammes.
Ich hatte mein Jahr damit verbracht, über die Eitelkeit aller Ziele zu jammern; dennoch hatte ich die meinen mit Zähigkeit verfolgt. Ich bestand meine Prüfung in allgemeiner Philosophie. Simone Weil war die Erste auf der Liste, ich kam gleich hinterher, unmittelbar vor einem ‹Normalien›, der Jean Pradelle hieß. Auch im Griechischen kam ich durch. Mademoiselle Lambert triumphierte, und zu Hause
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