Memoiren einer Tochter aus gutem Hause
persönliche Beleidigung. Sie misstraute Claudel, den Zaza liebte, weil er ihr dazu verhalf, Himmel und Erde miteinander zu versöhnen. «Du würdest besser daran tun, die Kirchenväter zu lesen», sagte Madame Mabille verstimmt. Sie kam mehrmals zu uns, um sich bei meiner Mutter zu beklagen, und verbarg vor Zaza nicht ihren Wunsch, dass wir beide einander seltener sähen. Zaza aber wankte nicht; unsere Freundschaft war eines von jenen Dingen, auf die sie nicht verzichten wollte. Wir sahen uns sogar sehr oft. Wir arbeiteten Griechisch zusammen, wir gingen ins Konzert und besuchten gemeinsam Ausstellungen. Manchmal spielte sie mir auf dem Klavier Chopin oder Debussy vor. Wir gingen viel zusammen spazieren. Eines Nachmittags führte sie mich, nachdem ich meiner Mutter ihre ungern gegebene Einwilligung abgerungen hatte, zu einem Friseur, der mir einen ‹Bubikopf› schnitt. Ich gewann freilich nicht viel dabei, denn, ärgerlich darüber, dass sie sich hatte überreden lassen, versagte mir meine Mutter den Luxus einer Wasserwelle. Aus Laubardon, wo sie ihre Osterferien verbrachte, sandte Zaza mir einen Brief, der mich bis auf den Grund meiner Seele bewegte: ‹Ich hatte seit meinem fünfzehnten Jahr in großer seelischer Einsamkeit gelebt, ich litt darunter, isoliert und verloren zu sein: Sie haben meine Einsamkeit durchbrochen.› Das hinderte sie aber nicht, gerade in diesem Augenblick in einen Zustand ‹schrecklicher Erschlaffung› zu versinken. ‹Niemals bin ich mir selbst so sehr zu viel gewesen›, schrieb sie mir. Sie setzte auch noch hinzu: ‹Ich habe zu sehr mit dem Blick auf die Vergangenheit gelebt und mich nie ganz von dem Glanz meiner Kindheitserinnerungen losreißen können.› Auch diesmal stellte ich mir weiter keine Fragen. Ich hielt es für natürlich, dass man sich in den Wandel zum Dasein einer Erwachsenen nur mit Schwierigkeiten fand.
Es war sehr ausruhend für mich, dass ich Jacques nicht mehr sah. Meine Selbstquälereien hatten aufgehört. Die ersten Sonnenstrahlen erwärmten mich innerlich. Obwohl ich rechtschaffen weiterarbeitete, beschloss ich, mich zu zerstreuen. Ich ging des Nachmittags ziemlich oft ins Kino; besonders häufig besuchte ich das ‹Studio des Ursulines›, das ‹Vieux-Colombier› und das ‹Ciné-Latin›; das war hinter dem Panthéon ein kleiner Saal mit Holzsitzen, dessen Orchester sich auf ein Klavier beschränkte; die Plätze waren nicht teuer, und es fanden dort Wiederaufführungen der besten Filme der letzten Jahre statt; ich sah dort
Goldrausch
und viele andere Chaplin-Filme. An manchen Abenden ging meine Mutter mit mir und meiner Schwester ins Theater. Ich sah Jouvet in
Le grand Large
, wo Michel Simon zum ersten Male auftrat, Dullin in
La Comédie du bonheur
und Madame Pitoëff als heilige Johanna. Ich dachte tagelang vorher schon an diese Ausgänge, sie verklärten die ganze Woche für mich; an der Wichtigkeit, die sie für mich hatten, ermesse ich, wie schwer die Strenge der beiden ersten Semester auf mir gelastet hatte. Am Tage besuchte ich Ausstellungen und streifte lange durch die Galerien des Louvre. Ich ging, diesmal ohne Tränen, in Paris umher und sah mir alles an. Ich liebte die Abende, an denen ich nach dem Nachtmahl allein in die Metro hinabstieg, die ich am anderen Ende von Paris in der Nähe der Buttes-Chaumont wieder verließ, wo es nach Grün und Feuchtigkeit roch. Oft ging ich zu Fuß nach Hause zurück. Am Boulevard de la Chapelle spähten hinter den Stahlbögen der Hochbahn Frauen nach Kunden aus; an den Fassaden der Kinos hingen Plakate in leuchtenden Farben. Die Welt rings um mich her entfaltete ihre unermessliche, verwirrende Gegenwart. Ich durchwanderte sie mit großen Schritten, von ihrem schwülen Atem gestreift. Ich sagte mir, dass es alles in allem doch äußerst interessant sei, zu leben.
Mein Ehrgeiz erwachte von neuem. Trotz meiner Freundschaften und meiner ungewissen Liebe fühlte ich mich sehr allein; niemand kannte, niemand liebte mich ganz, so wie ich wirklich war; niemand, dachte ich, war und würde jemals für mich ‹etwas Definitives und Vollständiges› sein. Ehe ich aber immer weiter nur litt, stürzte ich mich lieber von neuem in das Gefühl meines Stolzes. Meine Isolierung war ein Beweis meiner Überlegenheit; ich zweifelte jetzt nicht mehr daran: Ich war ein besonderes Wesen und würde etwas tun. Ich überlegte mir Themen für einen Roman. Eines Morgens begann ich in der Bibliothek der Sorbonne, anstatt Griechisch zu
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