Memoiren einer Tochter aus gutem Hause
mir einen großen Dienst, indem er meine Neigung zur Philosophie aufs Neue belebte, und einen sogar noch größeren vielleicht, indem er mich meine Heiterkeit wiederfinden ließ: Ich kannte niemanden mehr, der fröhlich war. Er trug so leicht an der Last der Welt, dass sie auch mich nicht mehr niederzudrücken vermochte; im Luxembourggarten strahlten morgens der blaue Himmel, der grüne Rasen, die Sonne, wie an den schönsten Tagen. ‹Es gibt so viele neu ergrünende Äste in diesem Augenblick, sie verdecken vollkommen den Abgrund, der unter ihnen gähnt.› Das bedeutete, dass ich begann, Vergnügen am Leben zu finden, und meine metaphysischen Ängste vergaß. Als Pradelle mich eines Tages bis nach Hause begleitete, begegnete uns meine Mutter, und ich stellte ihn ihr vor; er gefiel ihr: Er gefiel immer. Diese Freundschaft wurde mir erlaubt.
Zaza hatte im Griechischen bestanden. Sie ging nach Laubardon. Ende Juli bekam ich von ihr einen Brief, der mir den Atem benahm. Sie war zum Verzweifeln unglücklich und sagte mir auch, weshalb. Sie erzählte mir endlich die Geschichte jener Jugendtage, die sie an meiner Seite verlebt hatte und von denen ich überhaupt nichts wusste. Fünfundzwanzig Jahre zuvor hatte ein Vetter ihres Vaters, der baskischen Tradition getreu, sein Glück in Argentinien zu machen versucht. Er war dort reich geworden. Zaza war elf Jahre alt, als er ins Elternhaus zurückgekehrt war, das etwa fünfhundert Meter von Laubardon entfernt lag; er war verheiratet und hatte einen Sohn in Zazas Alter; dieser war ein ‹einsamer, trauriger, scheuer› kleiner Bursche, der sich sehr mit ihr anfreundete. Seine Eltern brachten ihn als Internen in einer geistlichen Schule in Spanien unter; in den Ferien aber sahen die beiden Kinder einander wieder und unternahmen zu zweit jene Ausflüge zu Pferde, von denen Zaza damals mit blitzenden Augen sprach. Als beide fünfzehn Jahre alt waren, merkten sie, dass sie sich liebten; verlassen, verbannt, besaß André einzig sie auf der Welt; Zaza aber, die sich für hässlich, anmutlos und verschmäht hielt, warf sich ihm in die Arme; sie erlaubten sich Küsse, durch die sie sich leidenschaftlich aneinandergeheftet fühlten. Von da an schrieben sie sich allwöchentlich, und sie träumte von ihm während des Physikunterrichts und unter dem jovialen Blick von Abbé Trécourt. Die Eltern Zazas und die von André – die sehr viel reicher waren – hatten sich verfeindet; sie hatten die Kameradschaft der beiden nicht gestört, solange sie Kinder waren, aber als sie feststellen mussten, dass beide groß geworden waren, schritten sie ein. Es kam gar nicht in Frage, dass man André und Zaza jemals gestatten würde, Mann und Frau zu werden. Madame Mabille entschied also, dass sie einander nicht mehr sehen dürften. ‹In den Weihnachtsferien 1926 habe ich hier einen einzigen Tag verbracht, nur um André wiederzusehen und ihm zu sagen, dass zwischen uns alles aus sein müsse. Aber wenn ich ihm auch die grausamsten Dinge ins Gesicht sagen musste, konnte ich doch nicht hindern, dass er sah, wie lieb er mir war, und gerade diese Begegnung, die den Bruch besiegeln sollte, hat uns mehr denn je zueinandergeführt.› Etwas später schrieb sie noch: ‹Als man mich gezwungen hat, mit André zu brechen, habe ich so sehr gelitten, dass ich mehrmals dicht am Selbstmord war. Ich erinnere mich an einen Abend, an dem ich, als ich die Metro herankommen sah, mich fast daruntergeworfen habe. Ich hatte nicht den geringsten Lebenswillen mehr.› Seitdem waren anderthalb Jahre vergangen: Sie hatte André nicht wiedergesehen, sie hatten einander nicht geschrieben. Plötzlich, bei ihrer Ankunft in Laubardon, war sie ihm begegnet. ‹Zwanzig Monate lang hatten wir nichts voneinander gewusst und uns auf so verschiedenen Bahnen bewegt, dass unsere plötzliche Begegnung etwas Verstörendes, beinahe Schmerzliches hatte. Ich sehe jetzt mit großer Klarheit, von welchen Leiden, von welchen Opfern ein Gefühl zwischen zwei Wesen, die so wenig zueinander passen wie er und ich, begleitet sein muss, aber ich kann nicht anders handeln, als ich es jetzt tue: Ich kann nicht auf den Traum meiner ganzen Jugend, auf so viele liebe Erinnerungen verzichten, ich kann nicht jemanden im Stich lassen, der mich so nötig braucht. Andrés sowohl wie meine Familie halten eine Annäherung dieser Art für durchaus unerwünscht. Er selbst geht im Oktober auf ein Jahr nach Argentinien, von wo er zurückkehren wird, um in
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