Memoiren einer Tochter aus gutem Hause
es auch mich sehr verdrieße. Wir machten uns gegenseitig Mut, sagten uns, dass wir immerhin siebzehn und neunzehn Jahre alt seien, und baten demgemäß Mama, unsere Korrespondenz nicht länger ihrer Zensur zu unterziehen. Sie antwortete zunächst, dass es ihre Pflicht sei, über unsere Seelen zu wachen, gab aber schließlich nach. Es war ein bedeutsamer Sieg.
Im Ganzen hatten sich meine Beziehungen zu meinen Eltern eher etwas entspannt. Ich verbrachte friedliche Tage. Ich trieb Philosophie und dachte ans Schreiben. Ich zögerte noch, bevor ich mich endgültig entschied. Pradelle hatte mich davon überzeugt, dass die vornehmste Aufgabe immer sei, nach der Wahrheit zu suchen: Würde die Literatur mich nicht diesem Ziel entfremden? Und lag nicht auch ein Widerspruch in meinem Unterfangen? Ich wollte von der Eitelkeit aller Dinge reden; der Schriftsteller begeht jedoch bereits Verrat an seiner Verzweiflung, wenn er sie zum Gegenstand eines Buches macht: Besser wäre, das Schweigen von Valérys Monsieur Teste sich zum Vorbild zu nehmen. Ich fürchtete auch, wenn ich schriebe, dazu verleitet zu werden, mir Erfolg und Berühmtheit zu wünschen, Dinge, die ich verachtete. Diese abstrakten Bedenken wogen schwer genug und wirkten hemmend auf mich ein. Brieflich konsultierte ich mehrere meiner Freunde; wie ich im Stillen hoffte, fand ich bei ihnen Ermutigung. Ich begann einen breit angelegten Roman: Die Heldin ging durch alle meine Erfahrungen hindurch; sie erwachte zum ‹wahren Leben›, geriet in Konflikt mit ihrer Umgebung und schöpfte die Bitternis aller Dinge – Handeln, Liebe, Wissen – aus. Ich habe nie erfahren, wie die Geschichte ausgegangen ist, denn es fehlte mir an Zeit; ich blieb mittendrin stecken.
Briefe von Zaza, die ich damals bekam, schlugen einen anderen Ton als die vom Juli an. Sie stellte fest, berichtete sie mir, dass sie sich im Laufe der beiden letzten Jahre in intellektueller Hinsicht viel weiter entwickelt habe; sie war gereift, sie hatte sich verändert. Bei ihrer kurzen Begegnung mit André hatte sie den Eindruck gehabt, dass er nicht entsprechend vorangekommen war; er habe sehr jugendlich und etwas zurückgeblieben in seinen Anschauungen auf sie gewirkt. Sie begann sich zu fragen, ob ihre Treue nicht ein ‹eigensinniges Festhalten an Träumen sei, die man nicht zerrinnen sehen möchte, ein Mangel an Aufrichtigkeit und an Mut›. Sie hatte sich zweifellos eine Zeitlang in übertriebener Weise dem Einfluss von
Le Grand Meaulnes
hingegeben. ‹Ich habe aus diesem Buch eine Liebe zum Traum, ja einen Kultus des Traums geschöpft, dem keine Wirklichkeit zugrunde liegt und der mich am Ende weit von mir weggeführt hat.› Sicherlich bedauerte sie die Liebe zu ihrem Vetter nicht: ‹Dieses Gefühl, das ich mit fünfzehn Jahren erlebte, ist mein wirkliches Erwachen zum Dasein gewesen; an dem Tage, an dem ich zuerst geliebt habe, sind mir unendlich viele Dinge aufgegangen; ich habe beinahe nichts mehr lächerlich gefunden.› Aber sie musste sich doch eingestehen, dass sie seit dem Bruch vom Januar 1926 diese Vergangenheit ‹durch die Kraft ihres Willens und ihrer Phantasie› künstlich verlängert habe. Auf alle Fälle musste André jetzt auf ein Jahr nach Argentinien gehen; bei seiner Rückkehr würde es Zeit sein, feste Entschlüsse zu fassen. Im Augenblick war sie es müde, sich weiter zu erforschen; sie verbrachte gesellschaftlich stark bewegte Ferien; anfangs war es ihr viel zu viel gewesen; ‹aber jetzt›, schrieb sie mir, ‹will ich nur noch daran denken, wie ich mich amüsiere›.
Diese Bemerkung erstaunte mich, und in meiner Antwort griff ich sie leise tadelnd wieder auf. Zaza verteidigte sich mit aller Lebhaftigkeit: Sie wisse sehr wohl, dass Amüsieren keine Fragen löse: ‹Letzthin›, schrieb sie mir, ‹wurde hier ein großer Ausflug mit Freunden ins Baskenland veranstaltet; ich hatte ein solches Verlangen nach Einsamkeit, dass ich mir einen kräftigen Axthieb in den Fuß versetzt habe, um nicht teilnehmen zu müssen. Ich wurde dafür mit acht Tagen Chaiselongue und unaufhörlichen mitleidigen Bemerkungen bestraft, aber wenigstens hatte ich ein gewisses Maß an Alleinsein für mich erreicht, vor allem das Recht, nicht zu sprechen und mich nicht amüsieren zu müssen!›
Ich war tief gerührt. Ich wusste, wie verzweifelt man sich nach Alleinsein und dem ‹Recht, nicht zu sprechen›, sehnen kann. Niemals aber hätte ich den Mut aufgebracht, mir den Fuß zu zerhacken. Nein,
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