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Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Titel: Memoiren einer Tochter aus gutem Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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schien mir gleichsam die negative Form einer Gegenwart zu sein, zu der es am Ende doch möglich sein werde, einmal hinzugelangen. Ich dachte dabei nicht an den Gott der Christen: Der Katholizismus missfiel mir mehr und mehr. Gleichwohl war ich beeinflusst durch Mademoiselle Lambert, durch Pradelle, die behaupteten, es sei möglich, zum wahren Sein vorzudringen: Ich las Plotin und Studien über mystische Psychologie. Ich fragte mich, ob nicht jenseits der Grenzen der Vernunft gewisse Erfahrungen die Möglichkeit in sich bergen könnten, mich des Absoluten teilhaftig werden zu lassen; an dem gleichen abstrakten Ort, von dem aus ich die unwirtliche Welt in Staub und Asche legte, suchte ich die Fülle. Weshalb sollte eine Mystik nicht möglich sein? ‹Ich will an Gott rühren oder Gott werden›, erklärte ich. Das ganze Jahr hindurch überließ ich mich immer wieder diesem Wahn.
    Indessen war ich meiner selbst müde geworden. Ich hörte beinahe vollkommen auf, mein Tagebuch zu führen. Ich beschäftigte mich. In Neuilly wie in Belleville verstand ich mich gut mit meinen Schülern, der Lehrberuf amüsierte mich. An der Sorbonne nahm niemand an den Vorlesungen über Soziologie oder Psychologie teil, so einfältig kamen sie uns vor. Ich wohnte einzig den Vorstellungen bei, die am Sonntag- und Dienstagvormittag Georges Dumas uns in Sainte-Anne mit Hilfe einiger Geisteskranker gab. Manisch Besessene, Paranoiker, Fälle von Dementia praecox zogen auf der Estrade an uns vorüber, ohne dass er uns jemals über ihre Geschichte oder ihre Konflikte aufklärte, ja, ohne dass er auch nur zu ahnen schien, dass irgendetwas in ihren Köpfen vorging. Er beschränkte sich darauf, uns zu beweisen, dass ihre Anomalien sich genau in das Schema einordneten, das er in seinem Abriss aufgestellt hatte. Er war geschickt darin, die gewünschten Reaktionen zu provozieren, und die schlaue Bosheit in seinem alten wächsernen Gesicht war so ausdrucksvoll, dass wir Mühe hatten, nicht laut herauszulachen: Man hätte meinen können, der Irrsinn sei ein ganz großartiger Spaß. Selbst in diesem Lichte faszinierte er mich. An Delirien oder Halluzinationen Leidende, Schwachsinnige, heitere, gequälte, besessene Kranke – alle diese Leute waren unter sich ganz und gar verschieden.
    Ich hörte Vorlesungen auch bei Jean Baruzi, dem Verfasser einer mit Achtung genannten Dissertation über den heiligen Johannes vom Kreuz, der alle Kapitalfragen der Menschheit in wahllosem Durcheinander behandelte. Aus einer Physis mit dunkler Haut und kohlschwarzem Haar durchbohrten seine Augen die finstere Nacht düster lodernder Feuer. Allwöchentlich riss sich seine Stimme bebend aus den Abgründen des Schweigens los und verhieß uns für die folgende Woche fulminante Erleuchtungen. Die ‹Normaliens› verschmähten diese Vorlesungen, die nur von gewissen Außenseitern aufgesucht wurden – unter diesen sah man René Daumal und Roger Vailland. Sie schrieben in avantgardistischen Zeitschriften. Der Erstere galt für einen tiefen Geist, der Zweite für eine lebhafte Intelligenz. Vailland gefiel sich darin, andere vor den Kopf zu stoßen, und sogar seine äußere Erscheinung hatte etwas Bestürzendes. Seine glatte Haut war bis zum Zerreißen straff über ein Gesicht gespannt, das ganz aus Profilen bestand: Von vorne sah man nur einen Adamsapfel. Sein blasierter Gesichtsausdruck stand im Widerspruch zu dieser Frische: Man hätte meinen können, es handle sich bei ihm um einen durch teuflische Zaubertränke verjüngten Greis. Man sah ihn oft in Gesellschaft einer jungen Frau, der er den Arm nachlässig um den Hals legte. «Mein Weibchen», erklärte er, wenn er sie einem bekannt zu machen gedachte. Ich las von ihm in
Le Grand Jeu
einen lebhaften Ausfall gegen einen Sergeanten, der einen Soldaten mit einem Straßenmädchen getroffen und ihn daraufhin bestraft hatte. Vailland nahm für alle Menschen, ob Zivilpersonen oder Militärs, das Recht in Anspruch, ihren animalischen Instinkten zu folgen. Ich war sehr nachdenklich gestimmt. Ich hatte eine unerschrockene Phantasie, aber, wie ich schon sagte: Die Wirklichkeit verschüchterte mich leicht. Ich machte keinen Versuch, Daumal oder Vailland näherzukommen; sie ihrerseits ignorierten mich.
    Ich knüpfte nur eine einzige neue Freundschaft an, die mit Lisa Quermadec, einer Pensionärin von Sainte-Marie, die sich auf die Lizenziatur in Philosophie vorbereitete. Sie war eine schmächtige kleine Bretonin mit aufgewecktem, etwas

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