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Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Titel: Memoiren einer Tochter aus gutem Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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männlichem Gesicht unter sehr kurz geschnittenem Haar. Sie verabscheute sowohl das Haus in Neuilly wie auch den Mystizismus von Mademoiselle Lambert. Sie glaubte an Gott, hielt aber alle, die ihn zu lieben behaupteten, für Großsprecher oder Snobs. «Wie könnte man jemanden lieben, den man gar nicht kennt?» Sie gefiel mir, aber ihr etwas bitterer Skeptizismus wirkte nicht gerade erheiternd auf mich. Ich schrieb weiter an meinem Roman. Für Baruzi begann ich, eine umfangreiche Abhandlung über ‹Die Persönlichkeit› zu verfassen, aus der ich eine Summa meines Wissens und meiner Unwissenheit machte. Einmal in der Woche ging ich allein oder mit Zaza ins Konzert: Zweimal schöpfte ich Entzückung aus
Le Sacre du Printemps
. Im Großen und Ganzen aber begeisterte ich mich kaum je für irgendetwas. Bekümmert las ich den zweiten Band der Korrespondenz zwischen Rivière und Alain-Fournier: Die Fieberräusche ihrer Jugend verloren sich in kleinlichen Sorgen, in mesquiner Feindseligkeit und Schärfe. Ich fragte mich, ob ein gleicher Abstieg auch mich erwartete.
    Ich kehrte zu Jacques zurück. Mit seinen Bewegungen und seinem Lächeln von ehemals wanderte er in der Galerie auf und ab, und die Vergangenheit lebte wieder auf. Ich ging oft zu ihm: Er sprach, er sprach viel; das Halbdunkel füllte sich mit Rauch, und in den bläulichen Ringen kreisten schillernde Worte; irgendwo, an unbekannten Orten, begegnete man Menschen, die von den anderen verschieden waren, und es trugen sich Dinge zu: komische, ein wenig tragische, manchmal sehr schöne Dinge. Wieso? Wenn die Tür geschlossen war, versiegten allmählich die Worte. Aber acht Tage darauf erkannte ich in der goldflimmernden Iris seiner Augen wiederum die Spur des Abenteuers. Abenteuer, Flucht, der große Aufbruch: Vielleicht lag in ihnen das Heil! Das war es jedenfalls, was Marc Chadourne in
Vasco
behauptete, einem Buch, das in diesem Winter beachtliche Erfolge erzielte und das ich fast ebenso entflammt verschlang wie früher
Le Grand Meaulnes
. Jacques hatte die Ozeane nicht überquert; aber viele junge Romanschriftsteller – unter ihnen Soupault – behaupteten, dass man auch, ohne Paris zu verlassen, erstaunliche Reisen unternehmen könne; sie beriefen sich auf die überwältigende Poesie jener Bars, in denen Jacques seine Nächte verbrachte. Ich liebte ihn von neuem. Ich war zuvor schon so tief in Gleichgültigkeit und sogar Verachtung versunken gewesen, dass diese Rückkehr zur Leidenschaft mich noch jetzt erstaunt. Dennoch glaube ich, dass ich sie mir erklären kann. Zunächst wog das Vergangene schwer; ich liebte Jacques zum großen Teil, weil ich ihn geliebt hatte. Außerdem war ich der Herzensdürre und der Verzweiflung müde: Ein Verlangen nach Zärtlichkeit und Sicherheit kehrte in mich zurück. Jacques bewies mir gegenüber eine Freundlichkeit, die er nicht mehr verleugnete; er gab sich Mühe, er amüsierte mich. Alles das hätte nicht genügt, ihn zu mir zurückzuführen; viel entscheidender war, dass er sich auch weiter unbehaglich in seiner Haut, dem Leben schlecht adaptiert und völlig im Ungewissen fühlte; ich hatte in seiner Gegenwart ein weniger fremdes Gefühl als bei allen den Leuten, die sich mit dem Leben abzufinden verstanden; nichts aber schien mir wichtiger, als mich einer solchen Haltung zu verschließen; ich folgerte daraus, dass wir beide, er und ich, zur gleichen Gattung gehörten, und von neuem verknüpfte ich mein Geschick mit dem seinen. Im Übrigen brachte mir das nur geringen Trost; ich wusste, wie verschieden wir waren, und rechnete nicht mehr damit, dass die Liebe mich von der Einsamkeit je erlösen würde. Ich hatte mehr den Eindruck, einer Schicksalhaftigkeit nachzugeben, als dem Glück frei entgegenzuschreiten. Meinen zwanzigsten Geburtstag leitete ich mit einem melancholischen Singsang ein. ‹Ich werde nicht nach Ozeanien reisen. Ich werde es nicht noch einmal mit dem hl. Johannes vom Kreuz versuchen. Nichts ist traurig, alles ist vorhergesehen. Dementia praecox wäre eine Lösung. Und wenn ich zu leben versuchte? Aber ich habe meine Erziehung im Cours Désir erhalten.›
    Gern hätte ich jene ‹zufallhafte und unnütze› Existenz gekostet, deren Anziehungskraft Jacques und die jungen Romanschriftsteller mir rühmten. Wie aber sollte ich etwas Unvorhergesehenes in meine Tage einfügen? Es gelang uns, meiner Schwester und mir, in großen Abständen immer einmal einen Abend der mütterlichen Wachsamkeit zu entfliehen: Meine

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