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Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Titel: Memoiren einer Tochter aus gutem Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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Schwester zeichnete oft am Abend in der ‹Grande Chaumière›, das war ein bequemer Vorwand, wenn ich selbst mir meinerseits ein Alibi verschaffte. Mit dem Geld, das ich in Neuilly verdiente, gingen wir in das ‹Studio des Champs-Élysées›, um uns ein ultramodernes Stück anzusehen, oder hörten im Promenoir des ‹Casino de Paris› Maurice Chevalier. Wir wanderten durch die Straßen und sprachen von unserem Leben oder dem Leben an sich; unsichtbar, aber überall gegenwärtig, streifte uns das Abenteuer. Durch solche Streiche wurden wir in heitere Stimmung versetzt; aber nicht allzu oft konnten wir sie wiederholen. Die tägliche Monotonie bedrückte uns schließlich doch: ‹O trübes Erwachen, Leben ohne Verlangen und Liebe, schon und so schnell erschöpft, grauenhafte
Öde
. So kann es nicht weitergehen! Was will ich? Was vermag ich? Nichts und wieder nichts. Mein Buch? Nur Eitelkeit. Die Philosophie? Ich habe sie satt. Die Liebe? Ich bin zu müde dazu. Und doch bin ich zwanzig Jahre alt und will leben!›
    So konnte es nicht weitergehen: Und es ging auch nicht weiter. Ich kehrte zu meinem Buch, zur Philosophie, zur Liebe zurück. Und dann war es dennoch wieder da: ‹Immer dieser Konflikt, der so ausweglos scheint! Ein glühendes Bewusstsein meiner Kräfte, meiner Überlegenheit über sie alle und dessen, was ich tun könnte! Nein, so kann es nicht weitergehen.›
    Aber es ging weiter. Und vielleicht würde es schließlich immer so weitergehen. Wie ein verrückt gewordenes Pendel schlug ich frenetisch einmal nach der Seite der Apathie und dann wiederum nach der der irregeleiteten Freude aus. Des Nachts stieg ich die Stufen von Sacré-Cœur hinauf und sah in der Wüste des endlosen Raums Paris aufblitzen, eine eitle Oase. Ich weinte, weil es so schön und weil es so sinnlos war. Durch die kleinen Straßen der ‹Butte› ging ich wieder hinab und lachte allen Lichtern entgegen. Ich strandete in Dürre und schwang mich wieder in den Frieden empor. Ich erschöpfte mich.
    Meine Freundschaften enttäuschten mich mehr und mehr. Blanchette Weiß brach mit mir; ich habe niemals begriffen, weshalb: Von einem Tage zum anderen kehrte sie mir den Rücken und gab keine Antwort auf den Brief, in dem ich sie um eine Erklärung bat. Ich erfuhr, dass sie mich überall als Intrigantin behandelte und mich beschuldigte, ich hätte aus rasender Eifersucht auf sie den Einband von Büchern, die sie mir geliehen hatte, mit den Zähnen zerbissen. Meine Beziehungen zu Riesmann waren kühl. Er hatte mich zu sich eingeladen. In einem riesigen, mit Kunstgegenständen angefüllten Salon hatte ich Jean Baruzi und seinen Bruder, den Verfasser eines esoterischen Buches, angetroffen; auch ein berühmter Bildhauer war da, dessen Werke Paris verschandelten, und ein paar andere Persönlichkeiten der akademischen Welt: Die Unterhaltung wirkte bestürzend auf mich. Riesmann selbst fiel mir durch seinen Ästhetizismus und seine Sentimentalität auf die Nerven. Die anderen, diejenigen, die ich sehr liebte, die, die ich liebte, und der, den ich liebte, verstanden mich nicht, sie genügten mir nicht; ihr Dasein, ihre Gegenwart sogar brachten für mich keine Lösung.
    Lange war es her, dass die Einsamkeit mich in den Stolz gedrängt hatte. Jetzt verdrehte sie mir vollends den Kopf. Baruzi gab mir meine Arbeit mit großen Lobsprüchen zurück; er ließ mich nach der Vorlesung zu sich kommen und drückte mir mit seiner ersterbenden Stimme die Hoffnung aus, dass hier der Ansatzpunkt eines gewichtigen Werkes geschaffen sei. Ich war ganz Feuer und Flamme. ‹Ich bin sicher, dass ich höher aufsteigen werde als sie alle. Hochmut? Wenn ich kein Genie habe, ja; aber wenn ich es habe – wie ich manchmal glaube, wie ich manchmal fast
sicher
bin –, so ist es nur Hellsichtigkeit›, schrieb ich ganz friedlich in mein Tagebuch. Am folgenden Tage sah ich Chaplin als ‹Vagabunden›; als ich aus dem Kino kam, ging ich in den Tuilerien spazieren; eine orangefarbene Sonne rollte am blassblauen Himmel dahin und tauchte die Fensterscheiben des Louvre in strahlende Glut. Ich rief mir die alten Wanderungen in der Dämmerung ins Gedächtnis zurück und fühlte mich plötzlich wie vom Blitze getroffen von jener Forderung, die ich so lange schon mit lauter Stimme verkündete: Ich musste mein Werk verfassen. Dieses Projekt war nicht neu. Da ich aber Lust verspürte, dass irgendetwas geschah, sich jedoch nie etwas zutrug, machte ich aus meiner eigenen Ergriffenheit ein

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