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Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Titel: Memoiren einer Tochter aus gutem Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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Ereignis. Noch einmal sprach ich im Angesicht des Himmels und der Erde feierliche Gelübde aus. Nichts würde mich jemals in irgendeinem Fall daran hindern, mein Buch nunmehr zu schreiben. Tatsache ist, dass ich diesen Entschluss seither nicht mehr in Frage stellte. Ich gelobte mir auch, dass ich von nun an die Freude wolle und zu ihr gelangen würde.
     
    Ein neuer Frühling begann. Ich errang meine Zeugnisse in Moral und Psychologie. Die Idee, mich in die Philologie zu stürzen, widerstand mir so sehr, dass ich es lieber aufgab. Mein Vater war betrübt, er hätte elegant gefunden, wenn ich zwei Lizenziaturen kombiniert hätte; doch ich war nicht mehr sechzehn Jahre alt: Ich blieb fest. Da kam mir eine Erleuchtung. Mein letztes Semester war unausgefüllt: Weshalb sollte ich nicht sofort mein Diplom vorbereiten? Es war in jener Zeit nicht verboten, sich im selben Jahre sowohl dazu wie zur ‹Agrégation› zu melden; wenn ich schnell damit vorankam, würde nichts mich hindern, mich gleich nach Beginn des Wintersemesters auf den ‹Concours› vorzubereiten, während ich die Diplomprüfung beendete: Auf diese Weise würde ich ein Jahr gewinnen! Dann aber würde ich in anderthalb Jahren mit der Sorbonne, mit zu Hause fertig sein, wäre frei, und etwas anderes könnte seinen Anfang nehmen! Ich zögerte nicht, sondern fragte Brunschvicg um Rat, der keinen Hinderungsgrund sah, der gegen diesen Plan hätte sprechen können, da ich ja ein Zeugnis in Naturwissenschaft und ausreichende Kenntnisse in Griechisch und Latein besaß. Er riet mir, über den ‹Begriff bei Leibniz› zu arbeiten, und ich willigte ein.
    Die Einsamkeit indessen wühlte weiter in mir. Sie verschlimmerte sich Anfang April. Jean Pradelle verbrachte ein paar Tage mit Kameraden in Solesmes. Am Tage seiner Rückkehr traf ich ihn in der ‹Maison des amis des livres›, in der wir beide Abonnenten waren. In dem Hauptraum empfing Adrienne Monnier in ihrem Mönchsgewand bekannte Schriftsteller: Fargue, Jean Prévost, Joyce; die kleinen Säle im Hintergrund waren immer leer. Wir setzten uns auf Hocker und plauderten. Mit etwas zögernder Stimme vertraute Pradelle mir an, er habe in Solesmes kommuniziert: Als er seine Kameraden zum Heiligen Tisch habe gehen sehen, habe er sich verbannt, ausgeschlossen, verlassen gefühlt; am folgenden Tage habe er gebeichtet und sie dorthin begleitet; er hatte sich für den Glauben entschieden. Mit einem Würgen in der Kehle hörte ich ihn an: Nun fühlte ich mich meinerseits verlassen, verbannt, verraten. Jacques fand eine Zuflucht in den Bars von Montparnasse, Pradelle am Fuße des Tabernakels: Neben mir gab es absolut niemanden mehr. Ich weinte die ganze Nacht über so viel Verrat.
    Zwei Tage darauf fuhr mein Vater nach La Grillère; er wollte, ich weiß nicht mehr, weshalb, seine Schwester besuchen. Das Stöhnen der Lokomotiven, der rötliche Schein des Dampfes in der kohlschwarzen Nacht weckten in mir die Vorstellung von herzzerreißenden großen Abschieden. «Ich fahre mit dir», erklärte ich. Man wendete ein, dass ich nicht einmal eine Zahnbürste bei mir hätte, schließlich aber ließ man mir diese Marotte durchgehen. Während der ganzen Reise berauschte ich mich, am Wagenfenster stehend, an Dunkelheit und Wind. Ich hatte das Land niemals im Frühling gesehen: Nun ging ich zwischen Kuckucksnelken, Primeln und Glockenblumen einher; ich dachte gerührt an meine Kindheit, an das Leben, an meinen Tod. Die Furcht vor dem Tode hatte mich nie verlassen, ich gewöhnte mich nicht daran; es kam noch jetzt vor, dass ich vor Grauen zitterte und weinte. Im Gegensatz dazu bekam die Tatsache, hier, in diesem Augenblick zu existieren, einen übermenschlichen Glanz. Oft versetzte mich in diesen paar Tagen die Stille der Natur in Schrecken oder Freude, ja, ich ging in dieser Hinsicht noch weiter. Auf diesen Wiesen, in diesen Wäldern fand ich die Spur der Menschen nicht mehr; ich glaubte an jene übermenschliche Wirklichkeit zu rühren, nach der ich im Innersten strebte. Ich kniete nieder, um eine Blume zu pflücken, und fühlte mich plötzlich fest an die Erde gepresst; niedergedrückt vom Gewicht des Himmels, konnte ich mich nicht rühren: Es war eine Angst in mir und daneben eine Ekstase, die mir Ewigkeit gab. In der Überzeugung, mystische Erfahrungen durchgemacht zu haben, die ich zu erneuern versuchte, kehrte ich nach Paris zurück. Ich hatte den hl. Johannes vom Kreuz gelesen: ‹Um dahin zu gehen, wohin du nicht weißt, dass du

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