Memoiren einer Tochter aus gutem Hause
Nachmittags wurde im Garten über das Frauenstimmrecht debattiert: Allen erschien es logisch, dass Madame Mabille eher eine Stimme zukam als einem Handlanger, der ein Trunkenbold war. Lili aber hatte aus sicherer Quelle, dass in den Elendsvierteln die Frauen noch ‹röter› als die Männer seien; wenn man sie zur Urne gehen ließe, würde die gute Sache darunter leiden. Das Argument schien entscheidend. Ich sagte nichts, aber im Chor der Zustimmung wirkte dieses Verstummen bereits subversiv.
Mabilles sahen fast täglich ihre Vettern Du Moulin de Labarthète. Die Tochter, Didine, war sehr mit Lili befreundet. Es waren drei Söhne da, Henri, ein Finanzinspektor mit dem fülligen Gesicht eines ehrgeizigen Lebemannes, Edgar, ein Kavallerieoffizier, und Xavier, ein zwanzigjähriger Seminarist: Er war der Einzige, der mir interessant schien; er hatte zartlinige Züge, nachdenkliche Augen und beunruhigte seine Familienangehörigen durch das, was sie als seine ‹Willenlosigkeit› bezeichneten; sonntags überlegte er, in einem Sessel ausgestreckt, so lange, ob er zur Messe gehen sollte oder nicht, dass er sie häufig versäumte. Er las, er dachte nach, er stach sehr stark von seiner Umgebung ab. Ich fragte einmal Zaza, weshalb zwischen ihr und ihm so gar keine Intimität bestehe. Sie war sehr verlegen: «Ich habe niemals darüber nachgedacht. Bei uns ist das nicht möglich. Die Familie würde es nicht verstehen.» Doch hatte sie Sympathie für ihn. Im Laufe eines Gesprächs fragten sich Lili und Didine mit offenbar absichtlich betonter Verblüffung, wie nur vernunftbegabte Leute das Dasein Gottes in Frage stellen könnten. Lili sprach von dem Uhrmacher und der Uhr, wobei sie mich scharf ansah; wiewohl mit schlechten Gefühlen, entschloss ich mich, den Namen Kant auszusprechen. Xavier unterstützte mich: «Ja», sagte er, «das ist der Vorteil, wenn man keine Philosophie getrieben hat: Da ist man imstande, sich mit solchen Argumenten zu begnügen.» Lili und Didine wurden sichtlich kleinlaut.
Das Thema, über das in Laubardon am meisten debattiert wurde, war der damals ausgebrochene Konflikt zwischen der ‹Action française› und der Kirche. Mabilles vertraten energisch den Standpunkt, dass alle Katholiken sich dem Papst zu unterwerfen hätten; die Labarthètes – mit Ausnahme von Xavier, der nicht Stellung nahm – waren für Maurras und Daudet. Ich hörte ihre leidenschaftlichen Stimmen und kam mir wie in der Verbannung vor. Ich litt darunter. In meinem Tagebuch behauptete ich, dass in meinen Augen eine Menge Leute ‹nicht existierten›; in Wirklichkeit zählte jede Person, sobald sie anwesend war. Die folgende Eintragung findet sich in meinem Heft: ‹Verzweiflungsanfall in Gegenwart von Xavier Du Moulin. Ich habe allzu sehr die Kluft zwischen ihnen und mir gespürt und erkannt, in welchen Sophismus sie mich hineinzwingen möchten.› Ich erinnere mich nicht mehr, was den Anlass zu diesem Ausbruch gegeben hatte, der offenbar nicht ruchbar geworden ist; doch sein Sinn ist mir klar: Ich nahm nicht leichten Herzens hin, dass ich mich so stark von den anderen unterschied und von ihnen mehr oder weniger unverblümt als räudiges Schaf behandelt wurde. Zaza verspürte Zuneigung zu ihrer Familie, auch ich hatte sie früher gemocht, und meine Vergangenheit hatte noch viel Gewicht bei mir. Im Übrigen war ich ein zu glückliches Kind gewesen, als dass ich mit Leichtigkeit in mir Hass oder Feindseligkeit hätte züchten können: Gegen Übelwollen war ich vollkommen wehrlos.
Zazas Freundschaft wäre eine Stütze für mich gewesen, wenn wir miteinander hätten reden können, doch sogar des Nachts stand eine Dritte zwischen uns; sobald ich mich zu Bett gelegt hatte, versuchte ich zu schlafen. Wenn Geneviève glaubte, ich sei eingeschlummert, zog sie Zaza noch sehr lange ins Gespräch. Sie fragte sich, ob sie nett genug zu ihrer Mutter sei; manchmal hatte sie ihr gegenüber Ausbrüche von Ungeduld: War das schlimm? Zaza antwortete sehr zurückhaltend. Aber sowenig sie sich auch preisgab, dieses Geplausche setzte sie doch eher herab, sie wurde mir fremder dadurch; mit bedrücktem Herzen sagte ich mir, dass sie eben trotz allem an Gott, an ihre Mutter, an ihre Pflichten glaube, und fühlte mich sehr allein.
Glücklicherweise richtete Zaza es so ein, dass wir bald einmal ungestört sprechen konnten. Sie erklärte mir in aller Heimlichkeit, aber doch ohne Umschweife, dass ihr Geneviève nur sehr bedingt sympathisch sei: Diese
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