Memoiren einer Tochter aus gutem Hause
halte sie zwar für ihre intime Freundin, aber das beruhe nicht auf Gegenseitigkeit. Ich war sehr erleichtert. Im Übrigen reiste Geneviève ab, und da die Jahreszeit fortschritt, ließ auch das gesellschaftliche Treiben nun allmählich nach. Ich hatte Zaza für mich. Eines Nachts, als das ganze Haus im Schlafe lag, gingen wir mit einem Umschlagetuch über unseren langen Madapolamnachthemden in den Garten; unter einer Pinie sitzend, führten wir lange Gespräche. Zaza war jetzt sicher, dass sie ihren Vetter nicht mehr liebte; sie erzählte mir nunmehr alle Einzelheiten dieser Idylle. Da erst erfuhr ich, wie ihre Kindheit verlaufen und wie groß ihre Verlassenheit gewesen war, von der ich damals nichts ahnte. «Ich habe Sie geliebt», sagte ich; sie fiel aus allen Wolken; sie gestand mir, dass ich nur einen nicht genau fixierten Platz in der Rangordnung ihrer Freundschaften eingenommen hätte, deren keine übrigens großes Gewicht gehabt habe. Am Himmel endete der sterbende Mond in träger Agonie, wir sprachen von früher, und die Hilflosigkeit unserer Kinderherzen von damals stimmte uns traurig; sie war tief bestürzt, dass sie mir Kummer gemacht und so wenig von mir gewusst habe; ich fand es bitter, ihr diese Dinge erst heute sagen zu können, wo sie schon aufgehört hatten, wahr zu sein: Es war nicht mehr so, dass sie mir mehr bedeutete als alles andere. Immerhin lag ein gewisser weicher Zauber in dieser späten Wehmut. Nie waren wir einander so nahe gewesen, und das Ende meines Aufenthalts schenkte mir noch viel Glück. Wir saßen zusammen in der Bibliothek, wir plauderten, rings von den gesammelten Werken Veuillots, Montalemberts und sämtlichen Jahrgängen der
Revue des Deux Mondes
umgeben; wir unterhielten uns auf den staubigen Wegen, über denen der herbe Duft der Feigenbäume lag; wir sprachen von Francis Jammes, von Laforgue, von Radiguet, von uns selbst. Ich las Zaza ein paar Seiten meines Romans vor: Die Dialoge bestürzten sie, aber sie ermutigte mich, damit fortzufahren. Auch sie, sagte sie, würde später gern schreiben; ich redete ihr zu. Als der Tag meiner Abreise kam, begleitete sie mich bis Mont-de-Marsan zum Zuge. Auf einer Bank sitzend, aßen wir kleine trockene Pfannkuchen und trennten uns ohne Wehmut, denn wir würden uns ja bald danach in Paris wiedersehen.
Ich war in dem Alter, in dem man noch an die Wirksamkeit brieflicher Auseinandersetzungen glaubt. Von Laubardon aus schrieb ich an meine Mutter und bat sie um ihr Vertrauen; es werde später bestimmt einmal etwas aus mir werden. Sie antwortete mir sehr freundlich. Als ich die Wohnung in der Rue de Rennes wieder betreten hatte, sank mir jedoch der Mut: Noch drei Jahre würde ich zwischen diesen Wänden verbringen müssen! Doch mein letztes Semester hatte mir gute Erinnerungen hinterlassen, und ich ermahnte mich zum Optimismus. Mademoiselle Lambert wünschte, dass ich sie zum Teil von ihrer Abiturientenklasse in Sainte-Marie entlastete; sie hatte vor, mir die Psychologiestunden zu überlassen; ich hatte zugesagt, um etwas Geld zu verdienen und mich im Unterrichten zu üben. Ich rechnete damit, im April meine Prüfung in Philosophie und im Juni die in Literatur zu machen; diese letzten Zeugnisse würden mich nicht allzu viel Arbeit kosten, ich würde Zeit behalten, zu schreiben, zu lesen und die großen Probleme zu studieren. Ich stellte einen umfassenden Studienplan auf und teilte mir die Zeit stundenweise ganz genau ein; ich fand ein kindliches Vergnügen daran, die Zukunft derart in Fächer zu verteilen; fast lebte der brave Eifer meiner früheren Oktobermonate wieder in mir auf. Ich hatte es eilig, meine Kameraden in der Sorbonne wiederzusehen. Ich durchquerte Paris von Neuilly bis in die Rue de Rennes, von der Rue de Rennes bis Belleville und betrachtete mit heiterem Blick die kleinen Haufen von dürren Blättern am Rande des Bürgersteigs.
Ich ging zu Jacques und setzte ihm mein System auseinander; man musste sein Leben ganz an die Suche danach wenden, weshalb man eigentlich lebte: Inzwischen durfte man von nichts annehmen, es sei einem ein für alle Mal gewährt, sondern seine Werte durch unaufhörlich wiederholte Akte der Liebe und des Willens unterbauen. Er hörte mir gutwillig zu, schüttelte jedoch den Kopf. «So könnte man nicht leben», sagte er. Als ich auf meiner Meinung beharrte, lächelte er. «Du findest nicht, dass das für junge Leute von zwanzig Jahren denn doch reichlich abstrakt ist?», fragte er mich. Er selbst
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