Memoiren einer Tochter aus gutem Hause
gehst, musst du durch das hindurchgehen, wovon du nicht weißt, dass du hindurchgehst.› Wenn ich diesen Satz umkehrte, sah ich in der Dunkelheit meiner Wege das Zeichen, dass ich einer Erfüllung entgegenging. Ich stieg ins tiefste Innere meiner selbst hinab, ich schwang mich ganz und gar zu einem Zenit empor, von welchem aus ich alles überblickte. In diesen Sonderzuständen lag sicher ein gewisses Maß an Aufrichtigkeit. Ich hatte mich in solche Einsamkeit versenkt, dass ich in manchen Augenblicken der Welt vollkommen entfremdet war und dass sie mich durch ihre Fremdheit bestürzte; die Objekte hatten keinen Sinn mehr, ebenso wenig wie die Gesichter oder ich selbst; da ich nichts mehr wiedererkannte, war es verlockend für mich, mir vorzustellen, ich rühre bereits an das Unbekannte. Ich kultivierte diese Zustände nur allzu bereitwillig; gleichwohl hatte ich keine Lust, einer Selbsttäuschung zu erliegen; ich fragte Pradelle und Mademoiselle Lambert, was sie davon hielten. Pradelle war kategorisch: «Das ist uninteressant.» Mademoiselle Lambert spezifizierte etwas mehr: «Es handelt sich dabei um etwas wie eine metaphysische Intuition.» Ich kam zu dem Schluss, dass man sein Leben nicht auf solchen rauschartigen Zuständen aufbauen könne, und suchte sie nicht mehr.
Ich fuhr fort, mich zu beschäftigen. Jetzt, wo ich im Besitz meiner ‹Lizenz› war, hatte ich Zugang zu der in einer entlegenen Ecke der Sorbonne untergebrachten Bibliothek Victor Cousin. Sie enthielt eine umfängliche Sammlung philosophischer Werke, und fast niemand benutzte sie. Dort verbrachte ich meine Tage. Ich schrieb beharrlich an meinem Roman. Ich las Leibniz sowie Bücher, die mir für die Vorbereitung auf den ‹Concours› nützlich waren. Am Abend, wenn ich mich dumm und stumpf gearbeitet hatte, litt ich darunter, in meinem Zimmer zu sitzen. Ich hätte mich sehr gut darüber getröstet, dass ich die Erde nicht verlassen konnte, hätte ich nur die Erlaubnis gehabt, nach Belieben darauf herumzuwandern. Wie gern wäre ich ins Dunkel hineingetaucht, hätte Jazz gehört, mich unter die Menschenmenge gemischt! Aber nein, ich war von hohen Mauern umgeben! Ich erstickte, ich verzehrte mich, ich wäre am liebsten mit dem Kopf gegen die Wände gerannt.
Jacques war im Begriff, sich nach Algerien einzuschiffen, wo er seine achtzehn Monate beim Militär abdienen würde. Ich sah ihn häufig, er war zu mir herzlicher denn je. Er sprach viel von seinen Freunden zu mir. Ich wusste, dass Riaucourt eine Liaison mit einer jungen Frau hatte, die Olga hieß; Jacques malte mir die Liebe der beiden in so romanhaften Farben aus, dass ich zum ersten Mal eine illegitime Verbindung mit einer gewissen Sympathie betrachtete. Er machte auch andeutende Bemerkungen über eine andere – sehr schöne – Person, die Magda hieß und mit der er mich gern einmal bekannt machen wollte. «Das ist eine Geschichte, die uns teuer zu stehen gekommen ist», sagte er zu mir. Magda gehörte zu jenen aufregenden Gestalten, die man nachts in den Bars trifft. Ich fragte nicht danach, welche Rolle sie in Jacques’ Leben gespielt haben mochte. Ich fragte mich überhaupt nach nichts. Ich war jetzt sicher, dass Jacques an mir hing und dass ich neben ihm in der Freude würde leben können. Ich fürchtete unsere Trennung, aber ich dachte kaum daran, so glücklich war ich, dass sie diese Annäherung zwischen uns bewirkte.
Acht Tage vor Jacques’ Aufbruch aß ich mit ihm im Familienkreis zusammen zu Abend. Sein Freund Riquet Bresson holte ihn nach dem Essen ab: Jacques schlug vor, ich solle zusammen mit ihnen einen Film,
L’Équipage
, ansehen. Verstimmt darüber, dass das Wort Heirat nie ausgesprochen worden war, hatte meine Mutter für unsere Freundschaft überhaupt nichts mehr übrig; sie lehnte für mich ab; ich drang weiter in sie, meine Tante trat für mich ein; schließlich ließ meine Mutter in Ansehung der Umstände sich dann doch erweichen.
Wir gingen ins Kino. Darauf führte Jacques mich ins ‹Stryx› in der Rue Huyghens, wo er Gewohnheitsgast war, und ich ließ mich zwischen Riquet und ihm auf einem Hocker nieder. Er nannte den Barmixer mit seinem Namen Michel und bestellte für mich einen Dry Martini. Nie noch hatte ich einen Fuß in ein Café gesetzt, und hier nun fand ich mich abends spät mit zwei jungen Leuten in einer Bar; für mich war das wirklich etwas ganz Außergewöhnliches. Die Flaschen mit ihren zurückhaltenden oder schreienden Tönen, die Schalen mit
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