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Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Titel: Memoiren einer Tochter aus gutem Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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mit schildpattbewehrten Augen zu mir. «Sie sind ein braves Mädchen aus gutbürgerlichem Haus, das einmal Bohème spielen will», war das Resultat, zu dem ein Mann mit Hakennase gelangte, der Feuilletonromane schrieb. Ich protestierte; der Hinkende zeichnete etwas auf ein Stück Papier. «Das muss man tun und mit sich geschehen lassen, wenn man die Kurtisane spielen will.» Ich ließ mich nicht verblüffen. «Das ist aber schlecht gezeichnet», sagte ich. «Immerhin ist es ähnlich.» Er öffnete seinen Hosenschlitz, aber diesmal schaute ich weg. «Das interessiert mich nicht.» Sie lachten. «Da sehen Sie!», sagte der Feuilletonist. «Eine richtige Hure hätte hingeschaut und gesagt: ‹Darauf brauchen Sie sich aber nichts einzubilden!›» Mit Hilfe des Alkohols gelang es mir, kaltblütig alle Obszönitäten mit anzuhören. Es kam vor, dass jemand mir einen Cocktail zahlte oder mit mir tanzte, weiter ging es jedoch nicht; offenbar wirkte ich eher dämpfend auf irgendwelche Gelüste.
    Meine Schwester nahm mehrmals an diesen Eskapaden teil; um möglichst verkommen zu wirken, setzte sie den Hut schief auf und kreuzte sehr hoch die Beine. Wir sprachen laut und lachten geräuschvoll dazu. Oder aber wir betraten beide nacheinander die Bar, taten, als kennten wir uns nicht, und gerieten zum Schein in Streit: Wir packten einander an den Haaren, schleuderten uns kreischend Beleidigungen ins Gesicht und waren glücklich, wenn das Publikum einen Augenblick lang auf die Komödie hereinfiel.
    An den Abenden, die ich zu Hause verbrachte, vermochte ich die Stille meines Zimmers kaum noch zu ertragen; ich suchte von neuem nach Auswegen in die Mystik. Eines Nachts verlangte ich von Gott, wenn er existierte, solle er sich erklären. Er schwieg, und niemals wieder richtete ich das Wort an ihn. Im Grunde war ich recht froh, dass er nicht existierte. Ich hätte abscheulich gefunden, wenn für die Partie, die hier unten im Gange war, schon jetzt in der Ewigkeit eine Lösung bestanden hätte.
    Auf alle Fälle gab es nunmehr auf Erden einen Ort, an dem ich mich gern aufhielt; das ‹Jockey› wurde mir vertraut: Ich fand dort Bekannte vor, ich fühlte mich mehr und mehr wohl. Ein Gin Fizz genügte, damit meine Einsamkeit schwand: Alle Menschen waren Brüder, wir verstanden uns, und alle liebten einander. Es gab keine Probleme, keine Wehmut, keine Erwartung mehr: Die Gegenwart füllte mich vollständig aus. Ich tanzte, Arme umschlangen mich, und mein Körper ahnte Formen des Entrinnens, des Sich-gehen-Lassens, die leichter zu finden und beschwichtigender waren als meine Verzückungen; weit davon entfernt, wie damals mit sechzehn Jahren daran Anstoß zu nehmen, fand ich es jetzt eher tröstlich, wenn die Hand eines Unbekannten auf meinem Nacken mit einer Wärme und Zartheit ruhte, die echter Zärtlichkeit ähnlich war. Ich hatte keine Ahnung von den Leuten ringsum, aber das machte mir nichts aus: Ich fühlte mich anderswohin versetzt und hatte den Eindruck, dass die Freiheit endlich in Reichweite vor mir lag. Seit der Zeit, da ich noch Bedenken trug, mit einem jungen Mann die Straße entlangzugehen, hatte ich Fortschritte gemacht; jetzt bot ich leichten Sinnes den Konventionen und Autoritäten Trotz. Der Anreiz, den für mich Bars und Dancings besaßen, leitete sich zum großen Teil aus ihrem Charakter der Unerlaubtheit her. Niemals hätte meine Mutter sich bereitgefunden, einen Fuß an solche Stätten zu setzen: Mein Vater wäre außer sich gewesen, wenn er mich dort gesehen hätte, Pradelle sicherlich betrübt; ich verspürte große Genugtuung bei dem Gedanken, dass ich mich vollkommen außerhalb des Gesetzes befand.
    Allmählich wurde ich kühner. Ich ließ mich auf der Straße ansprechen und gab mich dazu her, in Bistros mit irgendwelchen Unbekannten zu trinken. Eines Abends stieg ich in ein Auto ein, das die großen Boulevards entlang hinter mir hergefahren war. «Wie wäre es mit einem Zug durch Robinson?», schlug der Fahrer vor. Er wirkte nicht sehr angenehm, und was würde aus mir, wenn er mich zehn Kilometer von Paris entfernt einfach stehenließ? Aber ich hatte Grundsätze: ‹Gefährlich leben, nichts von sich weisen›, sagten Gide, Rivière, die Surrealisten und Jacques. «Gut», erklärte ich. An der Place de la Bastille saßen wir vor einem Café und tranken lustlos Cocktails. Als wir wieder im Auto waren, strich der Mann mir über das Knie; ich zuckte lebhaft zurück. «Ja, was denn? Sie lassen sich hier im Wagen

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