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Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Titel: Memoiren einer Tochter aus gutem Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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Abenden, an denen ich nach Belleville musste, eine Stunde in den ‹Vikings› verbrachte. Einmal trank ich zwei Gin Fizz, das war zu viel; ich übergab mich in der Metro, und als ich in Belleville die Tür zum Studienraum öffnete, versagten mir die Beine den Dienst, meine Stirn war mit kaltem Schweiß bedeckt: Man hielt mich für krank, bettete mich auf einen Diwan und bewunderte meine Selbstüberwindung. Meine Cousine Madeleine verbrachte ein paar Tage in Paris: Ich nutzte eifrig die Gelegenheit. Sie war dreiundzwanzig Jahre alt, und meine Mutter erlaubte, dass wir eines Abends ganz allein ins Theater gingen: In Wirklichkeit waren wir übereingekommen, ‹schlimme› Orte zu besuchen. Die Sache wäre beinahe noch gescheitert, denn in dem Augenblick, als wir das Haus verließen, kam Madeleine auf den Gedanken, mir etwas Rouge aufzulegen; ich fand das hübsch, und als meine Mutter mich beschwor, es sofort zu entfernen, erhob ich Einspruch dagegen. Zweifellos meinte sie, auf meiner Wange die Fingerspur Satans zu erkennen; mit einer Ohrfeige exorzisierte sie mich. Zähneknirschend gab ich nach. Sie ließ mich dann aber doch gehen, und wir beide, meine Cousine und ich, begaben uns nach Montmartre hinauf. Lange trieben wir uns im Schein der Neonreklamen umher; wir konnten uns nicht entscheiden. Wir verirrten uns zunächst in zwei Bars, die trist wie Milchstuben waren, und landeten schließlich Rue Lepic in einer schaurigen kleinen Kaschemme, wo junge Burschen mit zweifelhaften Sitten auf Kundschaft warteten. Zwei von ihnen setzten sich an unseren Tisch, etwas erstaunt über diesen ungewohnten Besuch, denn wir waren ja offensichtlich keine Konkurrenz für sie. Eine ganze Weile gähnten wir zu zweit: Ein Ekelgefühl würgte mich in der Kehle.
    Indessen gab ich nicht auf. Ich erzählte meinen Eltern, das Studienzentrum in Belleville bereite für den 14 . Juli einen Unterhaltungsabend vor und ich müsse mit meinen Schülerinnen ein Lustspiel einstudieren, was mich mehrere Abende in der Woche in Anspruch nehmen werde; desgleichen behauptete ich, im Dienste der ‹Équipes› das Geld auszugeben, das ich in Wirklichkeit in so manchem Gin Fizz anlegte. Gewöhnlich ging ich ins ‹Jockey› am Boulevard Montparnasse. Jacques hatte mir davon erzählt, und ich liebte dort die bunten Wandmalereien, auf denen sich Chevaliers Strohhut mit Chaplins Schuhen und dem Lächeln Greta Garbos zusammenfand: Ich liebte die schimmernden Flaschen, die bunten Fähnchen, den Geruch nach Tabak und Alkohol, die Stimmen, das Lachen, das Saxophon. Die Frauen versetzten mich in bewunderndes Staunen: Mein Wortschatz reichte nicht aus, um das Gewebe ihrer Kleider, die Farbe ihres Haars zu bezeichnen; ich konnte mir nicht vorstellen, dass man in irgendeinem Geschäft ihre hauchdünnen Strümpfe, ihre ausgeschnittenen Schuhe, ihr Lippenrot zu kaufen bekäme. Ich hörte, wie sie mit den Männern den Tarif für ihre Nächte und die Gefälligkeiten aushandelten, mit denen sie sie bedachten. Meine Einbildungskraft versagte; ich selbst hatte sie sozusagen blockiert. In der ersten Zeit besonders hatte ich das Gefühl, nicht von Menschen mit Fleisch und Blut, sondern von Allegorien umgeben zu sein: Die Unruhe, die Nichtigkeit, die Stumpfheit, die Verzweiflung, vielleicht sogar das Genie, ganz bestimmt aber das Laster sahen mich mit vielfältigen Gesichtern an. Ich war noch immer überzeugt, dass das Laster die für Gott vorgesehene Stelle im Menschen sei, und schwang mich mit dem gleichen Eifer auf den Barhocker, mit dem ich als Kind vor dem Allerheiligsten in die Knie gesunken war: Ich rührte an die gleiche Gegenwart; der Jazz war an die Stelle der Orgel getreten, und ich spähte nach dem Abenteuer in der gleichen Weise aus, wie ich früher auf die Verzückung wartete. «In den Bars», hatte Jacques mir früher einmal gesagt, «genügt es, was auch immer zu tun, und schon geschieht irgendetwas.» Ich tat also ‹was auch immer›. Betrat ein Besucher mit dem Hut auf dem Kopf den Raum, rief ich: «Hut ab!», und schleuderte seine Kopfbedeckung in die Luft. Ich zerschlug hin und wieder ein Glas: Ich hielt laute Reden, sprach die allabendlichen Gäste an und versuchte sie naiverweise irrezuführen, indem ich behauptete, Modell oder Straßenmädchen zu sein. Mit meinem abgetragenen Kleid, derben Strümpfen, niederen Absätzen und meinem überhaupt nicht hergerichteten Gesicht konnte ich niemanden täuschen. «Da müssten Sie anders aussehen», sagte ein Hinkender

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