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Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Titel: Memoiren einer Tochter aus gutem Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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Oliven oder Salzmandeln, die kleinen Tische, alles erstaunte mich; das Überraschendste aber war, dass für Jacques dieses ganze Dekor etwas derart Vertrautes war. Ich goss schnell meinen Cocktail hinunter, und da ich noch niemals einen Tropfen Alkohol getrunken hatte, nicht einmal Wein, den ich nicht mochte, war ich schnell im siebenten Himmel angelangt. Ich nannte Michel bei seinem Vornamen und trieb allerlei Faxen. Jacques und Riquet setzten sich an einen Tisch, um eine Partie Poker Dice zu spielen, und taten so, als kennten sie mich nicht. Ich sprach andere Kunden an, junge, sehr ruhige Leute aus den nordischen Ländern. Der eine von ihnen spendierte mir einen zweiten Martini, den ich auf ein Zeichen von Jacques hinter die Theke leerte. Um ganz auf der Höhe zu sein, zerschlug ich ein paar Gläser; Jacques lachte, ich war selig. Wir gingen in die ‹Vikings›. Auf der Straße gab ich Jacques meinen rechten, Riquet meinen linken Arm: Der linke existierte nicht für mich, und ich erlebte staunend mit Jacques eine körperliche Intimität, die ein Symbol für die Verschmelzung unserer Seelen war. Er lehrte mich Poker Dice und ließ mir einen Gin Fizz mit sehr wenig Gin darin bringen; verliebt vertraute ich mich seiner Aufsicht an. Die Zeit existierte nicht mehr für mich: Es war bereits zwei Uhr morgens, als ich an der Theke der ‹Rotonde› einen grünen Pfefferminzlikör trank. Rings um mich her verschwammen aus einer anderen Welt auftauchende Gesichter; wundersame Geschehnisse spielten sich an allen Straßenecken ab. Durch eine unlösliche Gemeinsamkeit fühlte ich mich mit Jacques verbunden, ganz als hätten wir zusammen einen Mord begangen oder zu Fuß die Sahara durchquert.
    Vor der Rue de Rennes  71 verließ er mich. Ich hatte den Schlüssel zur Wohnung. Doch meine Eltern erwarteten mich, meine Mutter in Tränen, mein Vater mit seinem offiziellsten Gesicht. Sie kamen vom Boulevard Montparnasse zurück, wo meine Mutter so lange geschellt hatte, bis meine Tante an einem Fenster erschien: Laut schreiend hatte meine Mutter verlangt, man solle ihr ihre Tochter herausgeben, und Jacques beschuldigt, er träte meiner Ehre zu nahe. Ich erklärte ihr, wir hätten
L’Équipage
angesehen und dann noch einen Kaffee in der ‹Rotonde› getrunken. Aber meine Eltern beruhigten sich nicht, und obwohl ich schon etwas abgebrühter als früher war, vergoss ich hektische Tränen. Jacques hatte sich mit mir für den folgenden Tag ins ‹Café Sélect› verabredet. Bestürzt über meine geröteten Augen und den Bericht, den ihm seine Mutter gegeben hatte, legte er in seinen Blick mehr Zärtlichkeit denn je; er verwahrte sich dagegen, dass er mich unehrerbietig behandelt habe. «Es gibt eben auch diffizilere Formen der Hochachtung», sagte er zu mir. Ich fühlte mich mit ihm noch enger verbunden als während unserer Orgie. Vier Tage später nahmen wir Abschied voneinander. Ich fragte ihn, ob er sehr traurig sei, Paris zu verlassen. «Ich sage vor allem dir nicht gern adieu», antwortete er mir. Er begleitete mich im Auto bis zur Sorbonne. Ich stieg aus. Lange sahen wir einander in die Augen. «Also», sagte er mit einer Stimme, die mich tief bewegte, «jetzt soll ich dich nicht mehr sehen?» Er fuhr an, und ich stand ratlos am Rande des Trottoirs. Aber meine letzten Erinnerungen gaben mir die Kraft, der Zeit zu trotzen. Ich dachte: ‹Nächstes Jahr!›, und ging Leibniz lesen.
     
    «Wenn du jemals Lust auf eine kleine Extratour hast, wende dich an Riquet», hatte Jacques zu mir gesagt. Ich schrieb dem jungen Bresson ein Briefchen und traf ihn eines Abends gegen sechs Uhr im ‹Stryx›; wir sprachen von Jacques, den er bewunderte; aber die Bar war öde, und es trug sich gar nichts zu. Wenig trug sich auch an einem anderen Abend zu, an dem ich in der ‹Rotonde› einen Aperitif zu mir nahm; ein paar junge Leute plauderten vertraulich miteinander; die Tische aus Tannenholz, die normannischen Bauernstühle, die roten und weißen Vorhänge schienen nicht mehr an Geheimnis zu bergen als die Hinterstube einer Bäckerei. Als ich indessen meinen Sherry Cobbler begleichen wollte, lehnte der dicke, rothaarige Barmixer meine Zahlung ab; dieser Zwischenfall – den ich niemals aufzuklären vermocht habe – rührte in diskreter Weise ans Wunderbare und machte mir erst recht Mut. Dadurch, dass ich schon früh von zu Hause fortging und verspätet bei meinem Arbeitskreis erschien, konnte ich mich so einrichten, dass ich jeweils an den

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