Memoiren einer Tochter aus gutem Hause
jedoch fühlte ich mich nicht unterdrückt. Ich hatte mich überzeugt, dass meine Eltern nur mein Bestes wollten. Zudem tat Gottes Wille sich durch ihre Lippen kund: Er hatte mich erschaffen, er war für mich gestorben, er hatte ein Recht darauf, dass ich mich ihm willenlos unterwarf. Ich fühlte auf meinen Schultern das beruhigende Joch der Notwendigkeit.
So leistete ich also Verzicht auf die Unabhängigkeit, die ich in früher Kindheit mir hatte bewahren wollen. Ein paar Jahre hindurch war ich nur das getreue Abbild meiner Eltern. Es ist jetzt Zeit, soweit ich es selber weiß, zu sagen, wer sie waren.
Über die Kindheit meines Vaters besitze ich nur sehr wenig verbürgte Kenntnisse. Mein Urgroßvater, der in Argenton Steuerrevisor gewesen war, hatte offenbar seinen Söhnen ein nettes Vermögen hinterlassen, da der jüngere von seinen Renten zu leben imstande war; der ältere, mein Großvater, erbte unter anderem ein kleines Gut von zweihundert Hektar; er heiratete ein junges Mädchen aus einer wohlhabenden nordfranzösischen Familie. Aus Neigung jedoch oder weil er drei Kinder hatte, trat er in die Büros der Pariser Stadtverwaltung ein; er legte dort eine lange Karriere zurück, die er als Abteilungsvorstand und mit dem Bändchen der Ehrenlegion beendete. Sein Lebensstil war glanzvoller als seine Stellung. Mein Vater verbrachte seine Kindheit in einer schönen Etagenwohnung am Boulevard Saint-Germain und lernte wenn nicht den Reichtum, so doch behaglichen Wohlstand kennen. Er hatte eine ältere Schwester und einen älteren Bruder, der, faul, lärmend und oft brutal, ihn schlecht behandelte. Da er selbst schwächlich und Gewalt ihm verhasst war, legte er es darauf an, seine physische Unzulänglichkeit durch Charme zu kompensieren; er wurde der Liebling seiner Mutter und auch seiner Lehrer. Seine Neigungen liefen denen des älteren Bruders zuwider; dem Sport, der Gymnastik abgeneigt, begeisterte er sich nur für Lektüre und geistige Arbeit. Meine Großmutter spornte ihn an. Er lebte in ihrem Schatten und suchte nur ihr zu Gefallen zu sein. Sie, die selbst den Kreisen einer sittenstrengen Bourgeoisie entstammte, in der man fest an Gott, an die Arbeit, an Verdienste glaubte, verlangte, dass ein Schuljunge aufs genaueste seinen Schülerpflichten nachkam: Jedes Jahr trug Georges am Collège Stanislas den ersten Preis davon. Während der Ferien trommelte er energisch die Bauernkinder zusammen und hielt Unterricht für sie ab; eine Fotografie zeigt ihn auf dem Hof von Meyrignac, von etwa zehn Schülern, Buben und Mädchen, umringt. Ein Zimmermädchen in weißer Schürze und Haube trägt ein Tablett mit Orangeadegläsern. Seine Mutter starb, als er dreizehn Jahre alt wurde; nicht nur empfand er darüber einen heftigen Schmerz, sondern er sah sich auch jählings ganz auf sich selber gestellt. Meine Großmutter verkörperte künftighin für ihn das Gesetz. Mein Großvater war für diese Rolle nur sehr wenig geeignet. Gewiss, er war ein rechtdenkender Mann: Er hasste die Communards und eiferte gegen Déroulède. Aber er war sich eher seiner Rechte bewusst als überzeugt von den Pflichten, die auf ihm ruhten. Ein Mittelding zwischen Aristokrat und Bourgeois, zwischen Grundbesitzer und Beamtem, respektvoll der Religion gegenüber, ohne sie jedoch praktisch auszuüben, fühlte er sich weder fest in die Gesellschaft eingegliedert noch mit ernst zu nehmenden Verantwortlichkeiten betraut, er bekannte sich zu einem Epikurismus, wie er in guten Kreisen damals üblich war. Er übte einen Sport aus, der fast ebenso distinguiert war wie das Fechten mit dem Degen, das Stockfechten, und hatte hier den Titel eines Vorfechters erworben, auf den er sich offenbar viel zugutetat. Für Diskussionen und Sorgen war er nicht zu haben; er ließ seine Kinder aufwachsen, wie sie wollten. Mein Vater glänzte auch weiterhin in den Fächern, die ihn interessierten, in Latein, in Literatur, doch bekam er keine Prämien mehr; er tat sich jetzt keinen Zwang mehr an.
Im Zuge gewisser finanzieller Ausgleichsmanöver sollte Meyrignac meinem Onkel Gaston zufallen; befriedigt über die Aussicht auf eine so sichere Position, gab er sich dem Müßiggang hin. Mein Vater jedoch – dessen Zukunft nicht gesichert war – wurde durch seine Lage als jüngerer Sohn, die Anhänglichkeit an seine Mutter, seine Schulerfolge dazu gebracht, auf seine Individualität zu pochen; er war sich gewisser Gaben bewusst und gedachte daraus Vorteil zu ziehen. Durch die
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