Memoiren einer Tochter aus gutem Hause
sich darin mit seiner Körperlichkeit vor einer Zuhörerschaft, die ebenfalls aus Fleisch und Blut besteht; auf die Rolle eines Spiegels beschränkt, wirft ihm das Auditorium gefügig sein eigenes Bild zurück; auf der Bühne herrscht er und existiert er unumschränkt, er fühlt sich als Souverän. Mein Vater hatte speziell Vergnügen an der Kunst der Maske. Wenn er sich eine Perücke aufsetzte und einen Backenbart anklebte, entzog er sich seinem Selbst und vermied jede Konfrontation damit. Er war weder Herr noch Bürger. Diese Unbestimmtheit verwandelte sich bei ihm in plastische Anpassungsfähigkeit; nachdem er vollkommen aufgehört hatte zu sein, wurde er jeder Beliebige; er übertraf sie alle.
Man wird verstehen, dass er niemals daran gedacht hat, sich über die Vorurteile seiner Kreise hinwegzusetzen und wirklich Schauspieler zu werden. Er widmete sich dem Theaterspielen, weil er sich mit der Bescheidenheit seiner Position nicht abfinden wollte; eine Niederlage ertrug er nicht. Sein Trick gelang ihm in doppeltem Sinn. Dadurch, dass er einen Rückhalt einer Gesellschaft gegenüber suchte, die ihm nur widerstrebend ihre Pforten öffnete, fand er nun im Gegenteil Zugang zu ihr. Dank seiner Amateurbegabung kam er tatsächlich mit Kreisen in Fühlung, die eleganter und aufgelockerter waren als die, aus denen er selber stammte; man schätzte dort geistreiche Leute, hübsche Frauen, das Vergnügen schlechthin. Als Schauspieler und als Weltmann war mein Vater nunmehr auf dem rechten Wege. Alle seine Mußestunden widmete er der Komödie und der Pantomime. Sogar am Vorabend seiner Hochzeit stand er noch auf der Bühne. Gleich nach der Rückkehr von der Hochzeitsreise veranlasste er auch Mama zum Theaterspielen; ihre Schönheit glich ihre Unerfahrenheit aus. Ich habe schon gesagt, dass die beiden alljährlich in Divonne-les-Bains an den Aufführungen teilnahmen, die eine Liebhabertruppe dort veranstaltete. Sie gingen oft ins Theater. Mein Vater war auf
Comœdia
abonniert und über allen Kulissenklatsch auf dem Laufenden. Zu seinen intimen Freunden gehörte ein Schauspieler vom ‹Théâtre de l’Odéon›. Während seines Aufenthaltes im Lazarett von Coulommiers verfasste und spielte er in Zusammenarbeit mit einem anderen Patienten, dem jungen Sänger Gabriello, den er zuweilen in unser Haus einlud, eine Revue. Später, als er nicht mehr die Mittel besaß, um ein Leben in der Gesellschaft zu führen, fand er noch immer Gelegenheit, auf der Bühne zu erscheinen, und wenn es bei Wohltätigkeitsaufführungen war.
In dieser beharrlichen Leidenschaft drückte sich ganz und gar die Eigenart seines Charakters aus. Durch seine Meinungen gehörte mein Vater seiner Epoche und seiner Klasse an. Die Idee einer Wiederaufrichtung des Königtums hielt er für utopisch; die Republik jedoch flößte ihm nur Widerwillen ein. Ohne der ‹Action française› eigentlich nahezustehen, hatte er doch Freunde unter den ‹Camelots du roi› und bewunderte Maurras und Léon Daudet. Man durfte in seiner Gegenwart die Grundsätze des Nationalismus niemals in Zweifel ziehen; war jemand übel beraten genug, darüber diskutieren zu wollen, so lehnte er ein solches Gespräch laut lachend ab. Seine Vaterlandsliebe hatte bei ihm ihren Platz jenseits aller Argumente und aller Redensarten. «Sie ist meine einzige Religion», pflegte er zu sagen. Er verabscheute alle Metöken und empörte sich darüber, dass den Juden gestattet war, sich in die Angelegenheiten des Landes einzumischen; von Dreyfus’ Schuld war er ebenso fest überzeugt, wie meine Mutter es vom Dasein Gottes war. Er las den
Matin
und war eines Tages wütend, weil einer der Vettern Sirmione
L’Œuvre
, ‹dieses Schmutzblatt›, ins Haus eingeschmuggelt hatte. Er hielt Renan für einen großen Geist, achtete aber die Kirche und hatte tiefen Abscheu vor den Gesetzen über die Trennung von Kirche und Staat. Seine private Moral war ganz auf den Kult der Familie ausgerichtet: Die Frau als Mutter war heilig für ihn; von Ehefrauen verlangte er Treue, von jungen Mädchen Unschuld, doch gestand er den Männern große Freiheiten zu, was für ihn die Veranlassung war, auch die sogenannten ‹leichten› Frauen mit Nachsicht zu betrachten. In klassischer Weise verband sich bei ihm der Idealismus mit einer Skepsis, die hart an Zynismus grenzte. Er war ergriffen von
Cyrano
, schätzte Clément Vautel, war entzückt von Capus, Donnay, Sacha Guitry, Flers und Caillavet. Gleichzeitig Nationalist und
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