Memoiren einer Tochter aus gutem Hause
oratorischen Möglichkeiten, die der Rechtsanwaltsberuf bot, sagte dieser ihm zu, denn er war bereits ein gewandter Redner. Er schrieb sich demgemäß bei der Rechtsfakultät ein, aber wieder und wieder hat er mir gesagt, dass, wenn konventionelle Gründe es ihm nicht verboten hätten, er lieber ins ‹Conservatoire› eingetreten wäre. Das war keine bloße Redensart: Nichts war echter bei ihm als seine Liebe zum Theater. Als Student entdeckte er voller Entzücken die Literatur, die in jener Epoche gefiel; er verbrachte ganze Nächte damit, Alphonse Daudet, Maupassant, Bourget, Marcel Prévost, Jules Lemaître zu lesen. Aber noch aufregendere Freuden wurden ihm zuteil, wenn er sich ins Parkett der Comédie-Française oder der ‹Variétés› begab. Er wohnte allen Aufführungen bei; er verliebte sich in die Schauspielerinnen und hegte für die großen Mimen seiner Zeit eine abgöttische Verehrung: Um ihnen ähnlich zu sein, trug er sich vollkommen bartlos. Damals trat er häufig in Salons in Amateurvorstellungen auf; er nahm Sprechunterricht, studierte die Kunst der Maske und schloss sich verschiedenen Liebhabertruppen an.
Die ungewöhnliche Neigung meines Vaters erklärt sich, glaube ich, aus seinem sozialen Status. Sein Name, gewisse Familienverbindungen, Kindheitskameradschaften, Freundschaften als junger Mann hatten in ihm die Überzeugung geschaffen, er gehöre zur Aristokratie; er machte sich demgemäß auch deren Wertungen zu eigen. Er schätzte elegante Gesten, schöne Gefühle, Ungezwungenheit, Schwung, Draufgängertum, Frivolität, Ironie. Die ernsten Tugenden der Bourgeoisie kamen ihm langweilig vor. Dank seinem sehr guten Gedächtnis legte er seine Examen ab, aber widmete seine Studienjahre vor allem seinen Vergnügungen, dem Besuch des Theaters, der Rennplätze, der Cafés und Salons. Er legte so geringen Wert auf ein Vorwärtskommen in einer bürgerlichen Laufbahn, dass er, nachdem er die nötigen Zeugnisse erworben hatte, nicht einmal seinen Doktor machte; er trug sich beim Appellationsgerichtshof ein und wurde Sekretär bei einem alteingesessenen Rechtsanwalt. Er verachtete alle Erfolge, die man nur durch Fleiß und Mühen erringt; seiner Meinung nach besaß man, wenn man gut geboren war, Qualitäten, an die kein Verdienst jemals heranreichen konnte: Geist, Talent, Charme, Rasse. Ärgerlich war nur, dass er in jener Kaste, der er anzugehören behauptete, keinerlei Rolle spielte. Er trug einen Namen mit einem ‹de› davor, der aber ganz unbekannt war und ihm weder die Türen der Clubs noch der Salons öffnete; um den großen Herrn zu spielen, fehlten ihm die Mittel. An dem, was er in der bürgerlichen Welt sein konnte – ein angesehener Advokat, ein Familienvater, ein ehrenwerter Bürger –, war ihm nur wenig gelegen. Er trat in das Leben mit leeren Händen ein und verschmähte die Güter, die man erwerben kann. Um diesem Zwiespalt zu begegnen, gab es nur eine Möglichkeit: etwas ‹vorzustellen›.
Um etwas vorzustellen, braucht man Zeugen; mein Vater schätzte weder die Natur noch die Einsamkeit, nur in Gesellschaft fühlte er sich wohl. Sein Beruf amüsierte ihn, soweit ein Advokat beim Plädieren nach außen hin in Erscheinung tritt. Als junger Mann verwendete er auf seine Toilette die Sorgfalt eines Dandys. Von klein auf an alle Manöver der Verführung gewöhnt, erwarb er sich den Ruf eines glänzenden Plauderers und unwiderstehlichen Charmeurs; aber diese Erfolge befriedigten ihn im Grunde nicht; sie verschafften ihm nur einen mittelmäßigen Rang in den Salons, in denen vor allem Vermögen und Adelstitel galten; um die in seiner Welt gültigen Hierarchien ablehnen zu können, musste er gegen jene selbst zu Felde ziehen, also – da die niedrigen Klassen nicht für ihn zählten – eine Stellung außerhalb dieser Welt beziehen. Die Literatur gestattet einem, sich an der Wirklichkeit zu rächen, indem man diese der Umwandlung durch die Dichtung unterzieht; wenn jedoch mein Vater ein leidenschaftlicher Leser war, so blieb ihm andererseits bewusst, dass Schreiben ihm widerstrebende Tugenden wie Bemühen und Geduld verlangte; es ist eine einsame Tätigkeit, bei der das Publikum nur in Form einer Zukunftshoffnung besteht. Das Theater hingegen stellte für seine Probleme eine weit bessere Lösung dar. Einem Schauspieler bleiben die Qualen des Schaffenmüssens erspart; man legt ihm ein völlig fertiges, erfundenes Universum vor, in dem bereits ein Platz für ihn vorgesehen ist; er bewegt
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