Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Titel: Memoiren einer Tochter aus gutem Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
Vom Netzwerk:
Boulevardier, hatte er Sinn für Größe und für Frivolität.
    Als ich noch ganz klein war, hatte er mich durch seine Fröhlichkeit und seine Redegabe gewonnen; als ich größer wurde, lernte ich ihn auf ernstere Weise bewundern: Ich staunte über seine Bildung, seinen Verstand, seine unfehlbare klare Vernunft. Zu Hause wurde seine Vorherrschaft nie in Frage gestellt; meine Mutter, die acht Jahre jünger war als er, erkannte sie jedenfalls aus vollem Herzen an; er hatte sie in das Leben und in die Welt der Bücher eingeführt. «Eine Frau ist, was ihr Mann aus ihr macht, er hat ihre Form zu bestimmen», pflegte er zu sagen. Er las ihr die
Origines de la France contemporaine
von Taine, den
Essai sur l’inégalité des races humaines
von Gobineau vor. Im Übrigen gefiel er sich nicht in übertriebenen Prätentionen, sondern hielt im Gegenteil gewisse Grenzen ein. Von der Front brachte er Novellenstoffe mit, die meine Mutter wundervoll fand, die er aber gleichwohl aus Furcht vor Mittelmäßigkeit nicht zu behandeln wagte. In dieser Bescheidenheit zeigte sich bei ihm eine Klarsicht, die ihm das Recht gab, in jedem besonderen Fall ein Urteil zu fällen, das keine Berufung zuließ.
    Je größer ich wurde, desto mehr gab er sich mit mir ab. Er überwachte besonders meine Orthographie. Schrieb ich an ihn, so schickte er mir meine Briefe stets korrigiert zurück. In den Ferien diktierte er mir besonders schwierige Texte, die er gewöhnlich aus Victor Hugo entnahm. Da ich viel las, machte ich wenig Fehler, und er stellte mit Befriedigung fest, die Orthographie liege mir im Blut. Um meinen literarischen Geschmack zu bilden, hatte er in einem schwarz eingebundenen Heft eine kleine Anthologie zusammengestellt:
Un Evangile
von Coppée,
Le Pantin de la petite Jeanne
von Banville,
Hélas! si j’avais su
! von Hégésippe Moreau und noch einige andere Gedichte. Er ließ sie mich auswendig lernen und korrigierte beim Aufsagen meine Betonung. Er las mir die Klassiker vor,
Ruy Blas
,
Hernani
, die Stücke Rostands, die
Histoire de la Littérature française
von Lanson und die Komödien von Labiche. Ich stellte ihm viele Fragen, auf die er mir immer bereitwillig Antwort gab. Er wirkte auf mich nicht einschüchternd, insofern ich ihm gegenüber nie die geringste Befangenheit verspürte; doch versuchte ich auch nicht, die Distanz zu vermindern, die ihn von mir trennte; es gab Gegenstände, die vor ihm zu erörtern mir nie in den Sinn gekommen wäre; ich war für ihn weder Körper noch Seele, sondern einzig Geist. Unsere Beziehungen lagen in einer durchsichtig klaren Sphäre, in der kein Zusammenstoß möglich war. Er neigte sich nicht zu mir herab, sondern hob mich zu sich empor, und ich war stolz darauf, mich daraufhin schon erwachsen zu fühlen. Sank ich dann auf mein Normalmaß zurück, so hielt ich mich an Mama; Papa hatte ihr einschränkungslos die Sorge überlassen, über mein physisches Dasein zu wachen und auf meine seelische Erziehung bedacht zu sein.
    Meine Mutter war in Verdun im Schoße einer frommen und reichen Familie auf die Welt gekommen; ihr Vater, der Bankier war, hatte seine Schulzeit bei den Jesuiten verbracht, ihre Mutter im Kloster. Françoise hatte einen Bruder und eine Schwester, die beide jünger waren als sie. Mit Leib und Seele ihrem Gatten ergeben, bezeugte Großmama ihren Kindern eine Zuneigung, die immer etwas Distanziertes behielt; Großpapa aber war mehr für Lili, die Jüngere; Mama litt unter der Kälte der Eltern. Als Halbpensionärin im Kloster ‹Les Oiseaux› fand sie Trost in der Wärme und Achtung, mit der dort die Schwestern sie umgaben; sie verlegte sich ganz aufs Lernen und auf die Frömmigkeit; nachdem sie ihr erstes Examen bestanden hatte, vervollkommnete sie ihre Bildung unter Leitung der Oberin. Weitere Enttäuschungen warfen einen Schatten auf ihre Jugendzeit. Kindheit und Jungmädchenjahre hinterließen in ihrem Herzen eine Art von Groll, der sich nie ganz beschwichtigte. Mit zwanzig Jahren, in einen fischbeingesteiften Kragen gezwängt, daran gewöhnt, spontane Regungen zu unterdrücken und bittere Geheimnisse in Schweigen zu begraben, kam sie sich einsam und unverstanden vor; trotz ihrer Schönheit fehlte es ihr an Sicherheit und an Frohsinn. Ohne Begeisterung ging sie nach Houlgate, wo ein unbekannter junger Mann ihr begegnen sollte. Sie gefielen einander. Von Papas Überschwang mitgerissen, gestärkt durch die Gefühle, die er ihr entgegenbrachte, blühte Mama nun förmlich auf.

Weitere Kostenlose Bücher