Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Titel: Memoiren einer Tochter aus gutem Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
Vom Netzwerk:
für Tränen, für die Liebe. Ich schmeichelte mir, in mir ‹das Herz einer Frau mit dem Hirn eines Mannes› zu vereinigen. Wieder hielt ich mich für die Einzige.
    Was – ich hoffe es wenigstens – meine Anmaßung einigermaßen dämpfte, war, dass ich an mir besonders die Gefühle liebte, die ich anderen einflößte, und mich für die anderen mehr interessierte als für mein Gesicht. Zu den Zeiten, als ich mich noch in Verliesen abkämpfte, die mich von der Welt abschlossen, fühlte ich mich von meinen Freunden getrennt, sie aber hatten damals nichts für mich vermocht; jetzt war ich mit ihnen durch die Zukunft, die ich mir wiedererobert und mit ihnen gemeinsam hatte, unauflöslich verbunden: In ihnen verkörperte sich das Leben, in dem ich von neuem so viele Verheißungen zu entdecken glaubte. Mein Herz schlug für den einen, den anderen, für alle zusammen, es war immer erfüllt.
    Der erste Platz in meiner Zuneigung gehörte unbedingt meiner Schwester. Sie nahm jetzt in einem Institut der Rue Cassette an Kursen für Gebrauchsgraphik teil, die ihr Vergnügen machten. Bei einem von der Schule veranstalteten Fest sang sie in dem Kostüm einer Schäferin alte französische Lieder; ich fand sie einfach bezaubernd. Manchmal ging sie zu einer Abendeinladung, und wenn sie blond, rosig, animiert in ihrem blauen Tüllkleid nach Hause kam, schien unser ganzes Zimmer heller zu werden. Wir besuchten gemeinsam Bilderausstellungen, den Herbstsalon, den Louvre; am Abend zeichnete sie in einem Atelier in Montmartre; oft holte ich sie dort ab, und wir wanderten durch Paris, während wir die Unterhaltung fortsetzten, die mit unserem ersten Stammeln ihren Anfang genommen hatte; wir setzten sie noch im Bett vor dem Einschlafen fort und auch noch am folgenden Tage, sobald wir wieder allein zusammen waren. Sie nahm an allen meinen Freundschaften, meinen Bewunderungen und Besessenheiten teil. Wenn ich Jacques in frommer Scheu lieber ausnahm, hing ich an niemandem so sehr wie an ihr; sie stand mir zu nah, als dass sie mir zu leben hätte helfen können, aber ohne sie, so dachte ich, würde mein Dasein jeden Reiz verlieren. Wenn ich tragisch gestimmt war, sagte ich, wofern Jacques stürbe, würde ich mir das Leben nehmen, verschwände jedoch sie, so würde ich nicht einmal nötig haben, mich erst umzubringen, um nicht mehr zu leben.
    Da Lisa keine Freundin hatte und immer verfügbar war, verbrachte ich viel Zeit mit ihr. An einem regnerischen Dezembermorgen bat sie mich nach einer Vorlesung, ich möchte sie zu ihrer Pension begleiten. Ich hatte mehr Lust, nach Hause zu gehen und zu arbeiten, und lehnte daher ab. Als ich an der Place Médicis gerade in den Autobus steigen wollte, sagte sie mit merkwürdiger Stimme: «Also gut, dann werde ich Ihnen Donnerstag erzählen, was ich Ihnen sagen wollte.» Ich spitzte die Ohren: «Nein, erzählen Sie gleich.» Sie zog mich in den Luxembourggarten: Niemand außer uns war in den durchweichten Alleen. «Sie dürfen es aber niemandem weitersagen, es ist zu lächerlich.» Sie zögerte: «Also: Ich möchte Pradelle heiraten.» Ich setzte mich auf einen Draht, der eine Rasenfläche einfasste, und sah sie entgeistert an. «Er gefällt mir so sehr!», sagte sie. «Mehr als irgendjemand mir jemals gefallen hat!» Sie bereiteten sich auf das gleiche Zeugnis in Naturwissenschaften vor und hörten gemeinsam ein paar Vorlesungen über Philosophie; mir war nichts Besonderes zwischen ihnen aufgefallen, wenn wir alle zusammen ausgegangen waren; aber ich wusste, dass Pradelle mit seinem samtenen Blick und seinem gewinnenden Lächeln für die jungen Mädchen unwiderstehlich war: Durch Clairaut hatte ich erfahren, dass von den Schwestern seiner Kameraden mindestens zwei sich in Liebe zu ihm verzehrten. Eine Stunde lang sprach Lisa unter den tropfenden Bäumen des verlassenen Parks zu mir von dem neuen Reiz, den das Leben jetzt für sie hatte. Wie zerbrechlich sie aussah in ihrem abgeschabten Mäntelchen! Ich fand ihr Gesicht recht rührend unter ihrem kleinen Hut, der die Form eines Blumenkelchs hatte, aber ich zweifelte, dass Pradelle sich von ihrer etwas nüchternen Anmut tiefer berührt fühlte. Stépha machte mich am Abend darauf aufmerksam, dass er eines Abends, als wir von Lisas einsamer, trauriger Existenz gesprochen hatten, ungerührt zu einem anderen Thema übergegangen war. Ich versuchte, bei ihm auf den Busch zu klopfen. Er kam von einer Hochzeit, und wir stritten uns etwas; er fand einen gewissen

Weitere Kostenlose Bücher