Memoiren einer Tochter aus gutem Hause
einem sehr netten alten Herrn, mein Probejahr am Lyzeum Janson-de-Sailly ab: Er stand der Liga für Menschenrechte vor und nahm sich 1940 , als die Deutschen in Frankreich einrückten, das Leben. Meine Kollegen waren Merleau-Ponty und Lévi-Strauss; ich kannte beide schon etwas. Der Erstere hatte mir immer schon von ferne Sympathie eingeflößt. Der Zweite schüchterte mich durch sein Phlegma ein, doch er verwendete es mit Geschick, und ich fand ihn sehr komisch, wenn er mit farbloser Stimme und völlig unbewegtem Gesicht unserem Auditorium die Torheit der Leidenschaften auseinandersetzte. Es gab freilich trübe Vormittage, an denen es mir lächerlich vorkam, vor vierzig Gymnasiasten, denen das wahrscheinlich vollkommen gleichgültig war, Vorträge über das Gemütsleben zu halten; an Schönwettertagen erwärmte ich mich selbst an dem, was ich sagte, und meinte in manchen Blicken ein schwaches Aufleuchten von Verständnis zu bemerken. Mit Rührung dachte ich daran zurück, wie ich einst unter den Mauern des Collège Stanislas entlanggestrichen war; eine Knabenklasse kam mir damals so fern, so unerreichbar vor! Jetzt stand ich selbst dort am Pult und erteilte Unterricht. Nichts auf der Welt schien mir künftighin unerreichbar zu sein.
Gewiss bedauerte ich nicht, eine Frau zu sein; ich zog im Gegenteil große Befriedigung daraus. Meine Erziehung hatte mich von der geistigen Unterlegenheit der Frau überzeugt, die auch von vielen meiner Geschlechtsgenossinnen zugegeben wurde. «Eine Frau darf nicht hoffen, vor dem fünften oder sechsten Misserfolg die ‹Agrégation› zu erlangen», erklärte mir Mademoiselle Roulin, die selbst bereits den zweiten hinter sich hatte. Dieses Handikap gab meinen Erfolgen den Glanz größerer Seltenheit als denen meiner männlichen Kollegen: Es genügte mir, es ihnen gleichzutun, um mich bereits als etwas Exzeptionelles zu fühlen; tatsächlich war ich keinem begegnet, der mir besonderes Staunen abgenötigt hätte; die Zukunft stand mir genauso gut offen wie ihnen: Sie hatten nichts vor mir voraus. Im Übrigen erhoben sie auch keinen Anspruch darauf; sie behandelten mich ohne Herablassung, sogar mit besonderer Freundlichkeit, denn sie sahen keine Rivalin in mir: Mädchen wurden im ‹Concours› zwar nach den gleichen Maßstäben eingestuft wie die männlichen Studenten, aber sie wurden über die festgesetzte Zahl hinaus zugelassen, nahmen jenen also ihre Plätze nicht weg. So trug mir eine Arbeit über Platon denn auch bei meinen Mitstudierenden – insbesondere vonseiten Jean Hippolytes – Komplimente ein, die durch keinen Hintergedanken beeinträchtigt wurden. Ich war stolz darauf, ihre Achtung errungen zu haben. Ihr Wohlwollen verhinderte, dass ich jemals darauf verfiel, jene Haltung des ‹challenge› einzunehmen, die mich später bei den Amerikanerinnen verdross; von vornherein waren die Männer für mich Kameraden, nicht Gegner. Weit davon entfernt, sie zu beneiden, empfand ich meine Lage, gerade insofern sie etwas Ungewöhnliches war, als privilegiert. Eines Abends lud Pradelle seine besten Freunde und ihre Schwestern zu sich ein. Auch meine Schwester begleitete mich. Alle jungen Mädchen zogen sich in das Zimmer der kleinen Pradelle zurück; ich blieb bei den jungen Männern.
Indessen verleugnete ich meine Weiblichkeit nicht. An jenem Abend hatten meine Schwester und ich die größte Sorgfalt auf unsere Toilette verwendet. Ich war in rote, sie in blaue Seide gehüllt; tatsächlich waren wir eher schlecht beschneidert, aber die anderen jungen Mädchen auch nicht gerade sehr gut. In der Gegend von Montparnasse hatten oft elegante Schönheiten meinen Weg gekreuzt; sie führten ein Leben, das zu verschieden von dem meinen war, als dass der Vergleich für mich erdrückend gewesen wäre; im Übrigen, wenn ich erst frei sein und Geld in der Tasche haben würde, hinderte mich ja nichts, es ihnen nachzutun. Ich vergaß nicht, dass Jacques mich als hübsch bezeichnet hatte; Stépha und Fernando weckten in mir große Hoffnungen. So wie ich war, sah ich mich nicht ungern im Spiegel; ich gefiel mir gut; auf dem Boden, der uns gemeinsam war, fühlte ich mich nicht schlechter bedacht als die anderen Frauen und verspürte ihnen gegenüber keinerlei Ressentiments; ich bemühte mich also, sie einfach zu verachten. In vieler Hinsicht stellte ich Zaza, meine Schwester, Stépha und sogar Lisa über meine männlichen Freunde: Sie waren empfindungsfähiger, großherziger, begabter für Träume,
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