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Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Titel: Memoiren einer Tochter aus gutem Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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viele Augenblicke gibt, in denen ich eine sinnlose, schneidende Sehnsucht nach den Meinen, nach Ihnen, nach Paris verspüre; aber das Berliner Leben gefällt mir, ich habe mit niemandem Schwierigkeiten, und mir scheint, die drei Monate, die ich hier zu verbringen habe, werden höchst interessant für mich sein.› Keinerlei Rückhalt fand sie in der französischen Kolonie, die nur aus dem diplomatischen Corps bestand; es gab in Berlin nur drei französische Studenten; die Leute waren alle sehr überrascht, dass Zaza ein Semester in Deutschland verbringen und Vorlesungen hören wollte. ‹Der Konsul, der mir einen Empfehlungsbrief für einen deutschen Professor gegeben hat, schließt diesen mit einem Satz, der mich amüsierte: «Ich bitte Sie wärmstens, die interessante Initiative von Mademoiselle Mabille zu unterstützen.» Man hätte meinen sollen, ich hätte den Nordpol überflogen!› Sie entschloss sich denn auch sehr rasch, den Verkehr mit den Eingeborenen aufzunehmen. ‹Mittwoch habe ich mit den Berliner Theatern in völlig unerwarteter Gesellschaft Bekanntschaft gemacht. Stellen Sie sich vor (würde Stépha sagen), dass ich gegen sechs Uhr nachmittags den Leiter des Hospizes, den dicken Herrn Pollack, auf mich zukommen sehe; mit seinem liebenswürdigsten Lächeln fragt er mich: «Kleines französisches Fräulein, wollen Sie heute Abend mit mir ins Theater gehen?» Zunächst war ich etwas beklommen; ich erkundigte mich, ob das Stück auch leidlich moralisch sei, und habe mich dann angesichts der seriösen und würdigen Miene des Herrn Pollack zu einer Zusage entschlossen. Um acht Uhr gingen wir durch die Straßen von Berlin und schwatzten miteinander wie zwei alte Kumpane. Jedes Mal, wenn es etwas zu bezahlen gab, sagte der dicke Boche auf die freundlichste Art: «Sie sind mein Gast, es kostet Sie nichts.» In der dritten Pause erzählte er mir, nachdem er sich durch eine Tasse Kaffee dazu angeregt hatte, seine Frau wolle nie mit ihm ins Theater gehen, sie teile überhaupt seine Neigungen nicht und habe nie während ihrer fünfunddreißig Ehejahre einmal versucht, ihm irgendetwas zu Gefallen zu tun, außer einmal vor zwei Jahren, als er am Sterben war. «Aber man kann ja nicht immer am Sterben sein», setzte er auf Deutsch hinzu. Ich habe mich prächtig amüsiert und fand Herrn Pollack weit unterhaltender als Sudermann, von dem ein Thesenstück im Genre Dumas fils gegeben wurde, das
Ehre
heißt. Als wir aus dem Trianontheater kamen, hat mein Boche, um diesen ungemein deutschen Abend zu beschließen, absolut noch Sauerkraut und Würstchen essen wollen!›
    Mit Stépha zusammen lachte ich bei dem Gedanken, dass Madame Mabille Zaza lieber in die Verbannung geschickt hatte, als sie einem gemischten Kreis von Tennisspielern beitreten zu lassen; nun ging ihre Tochter abends allein aus – allein mit einem Mann, einem Unbekannten, einem Ausländer, einem Boche! Noch hatte sie sich wenigstens nach der Moral des Stückes erkundigt. Nach ihren folgenden Briefen zu schließen, war sie aber sehr bald schon kühner geworden. Sie hörte Vorlesungen an der Universität, ging ins Konzert, ins Theater, in die Museen, schloss Freundschaften mit Studenten und mit einem Freund von Stépha, Hans Miller, dessen Adresse ihr diese gegeben hatte. Er hatte sie beim ersten Male so steif gefunden, dass er ihr lachend gesagt hatte: «Sie fassen ja das Leben mit Glacéhandschuhen an.» Sie war darüber sehr gekränkt gewesen und zu dem Entschluss gekommen, die Handschuhe auszuziehen.
    ‹Ich sehe so viele neue Leute, Milieus und Landschaften von einer so anderen Art, dass ich spüre, wie alle meine Vorurteile langsam dahinschwinden, und ich mir kaum noch vorstellen kann, dass ich jemals einem bestimmten – noch dazu was für einem – Milieu angehört habe. Es kommt vor, dass ich in der Botschaft mit Berühmtheiten der Diplomatie, mit pompösen Gesandtengattinnen aus Brasilien oder Argentinien zu Mittag esse, abends aber allein im Aschinger, einem sehr volkstümlichen Restaurant, Seite an Seite mit irgendeinem dicken Angestellten oder einem griechischen oder chinesischen Studenten. Ich bin keiner Gruppe verpflichtet, auf einmal hindert mich plötzlich nicht mehr irgendein törichter Grund, eine Sache zu tun, die mich interessieren könnte, nichts ist unmöglich oder unannehmbar, sondern mit Staunen und fröhlichem Vertrauen nehme ich alles entgegen, was jeder neue Tag mir an Unerwartetem und Neuem bringt. Zu Anfang gab ich mich noch

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