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Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Titel: Memoiren einer Tochter aus gutem Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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der Freundschaft oder der Liebe. Lärmend kehrten wir in die Gegend von Saint-Sulpice zurück. Am folgenden Tag notierte ich: ‹Fabelhafter Abend!› Aber ich durchsetzte doch meinen Bericht mit Parenthesen, die recht anders klangen. Riquet hatte mir von Jacques gesagt: «Er wird sich eines Tages verheiraten, auf einen plötzlichen Einfall hin; vielleicht wird er sogar ein guter Familienvater werden, aber immer wird er sich nach dem Abenteuer zurücksehnen.» Diese Prophezeiungen beunruhigten mich nicht allzu sehr; peinlicher war mir, dass offenbar Jacques drei Jahre lang das gleiche Leben wie Riquet geführt hatte. Dieser sprach von den Frauen mit einer Unbefangenheit, die mich verletzte: Konnte ich noch glauben, dass Jacques ein Bruder des Grand Meaulnes war? Ich zweifelte jetzt stark daran. Alles in allem hatte ich mir ohne sein Zutun von ihm dieses Bild gemacht und fing nun an, mir zu sagen, dass es ihm vielleicht gar nicht ähnlich sei. Aber ich resignierte nicht. ‹Alles das tut mir weh. Ich habe Visionen von Jacques, die nur weh tun.› Wenn die Arbeit ein Narkotikum war, so waren jedenfalls Alkohol und Spiel auch nicht gerade besser. Mein Platz war weder in den Bars noch in den Bibliotheken. Aber wo denn dann? Mit Entschiedenheit erkannte ich das Heil einzig in der Literatur. Ich plante einen neuen Roman: Ich würde eine Verwicklung zwischen einer Heldin, das heißt mir selbst, und einem Helden, der mit seinem ‹sinnlosen Hochmut und seinem Zerstörungswahn› Jacques glich, darzustellen versuchen. Doch mein Unbehagen hielt an. Eines Abends bemerkte ich in einer Ecke des ‹Stryx› Riquet, Riaucourt und seine Freundin Olga, die ich sehr elegant aussehend fand. Sie unterhielten sich über einen Brief von Jacques, den sie bekommen hatten, und verfassten gemeinsam eine Postkarte an ihn. Unwillkürlich fragte ich mich: ‹Weshalb schreibt er ihnen, niemals aber mir?› Den Tod in der Seele, lief ich einen ganzen Nachmittag lang über die Boulevards, bis ich schließlich in Tränen in einem Kino landete.
    Am folgenden Tage war Pradelle, der sich ausgezeichnet mit meinen Eltern verstand, bei uns zu Tisch; nach dem Essen wollten wir ins ‹Ciné-Latin›. In der Rue Soufflot schlug ich ihm unvermittelt vor, mich lieber ins ‹Jockey› zu begleiten; ohne Begeisterung stimmte er zu. Wir nahmen als seriöse Besucher an einem Tischchen Platz, und bei einem Gin Fizz erklärte ich ihm, wer Jacques war, den ich ihm gegenüber bislang nur ganz flüchtig erwähnt hatte. Er hörte mir mit reservierter Miene zu. Es war ihm sichtlich nicht wohl zumute. Fand er es ‹shocking›, fragte ich ihn, dass ich Stätten dieser Art besuchte? Nein, aber persönlich deprimierten sie ihn. Das kommt daher, dachte ich mir, dass er den Abgrund an Einsamkeit und Verzweiflung nicht kennengelernt hat, der einem das Recht auf alle solche regellosen Unternehmungen gibt. Indessen sah ich jetzt an seiner Seite, aus einer gewissen Entfernung von der Bar, an der ich mich oft so merkwürdig aufgeführt hatte, das Dancing mit ganz neuen Augen an: Sein unbeirrter Blick hatte diesem Ort alle Poesie geraubt. Vielleicht hatte ich ihn nur hierhergeführt, um ihn leise sagen zu hören, was ich mir selbst im Innersten leise sagte: ‹Was tue ich eigentlich hier?› Auf alle Fälle gab ich ihm auf der Stelle recht und kehrte nun sogar meine Strenge auch gegen Jacques: Weshalb verlor er seine Zeit damit, nach Betäubung zu suchen? Ich brach mit dieser Art von Extravaganz. Meine Eltern fuhren auf ein paar Tage nach Arras, doch ich machte mir diese Zeit nicht zunutze. Ich lehnte ab, mit Stépha zum Montparnasse zu gehen: Ich wies ihr Drängen sogar gereizt zurück. Ich blieb zu Hause am warmen Ofen und las Meredith.
    Ich stellte mir nicht länger Fragen über Jacques’ Vergangenheit; schließlich, wenn er Fehler gemacht hatte, veränderte das nicht gerade das Antlitz der Welt. Selbst in Bezug auf die Gegenwart sorgte ich mich nicht sehr um ihn; er schwieg sich allzu lange aus; dieses Schweigen grenzte nach und nach an Feindseligkeit. Als mir Ende Dezember seine Großmutter Flandin Grüße von ihm sagte, nahm ich sie gleichgültig hin. Da ich andererseits ungern etwas endgültig fallenließ, blieb ich des Glaubens, dass bei seiner Heimkehr unsere Liebe wieder aufleben würde.
     
    Ich fuhr fort zu arbeiten, was das Zeug hielt; täglich verbrachte ich neun bis zehn Stunden über meinen Büchern. Im Januar leistete ich unter der Aufsicht von Monsieur Rodrigues,

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