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Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Titel: Memoiren einer Tochter aus gutem Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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Ich hatte an der Place de Clichy einen Schock verspürt, weil ich den engen Zusammenhang zwischen dem schamlosen Verhalten des Zuhälters und der Brutalität des Polizisten erkannt hatte. Nicht ich nur, sondern die Welt stand für mich auf dem Spiel: Wenn die Menschen Körper hatten, die von so leidenschaftlichen Bedürfnissen geplagt wurden und eine so schwerwiegende Rolle spielten, entsprach sie ganz und gar nicht mehr der Idee, die ich mir von ihr machte; stattdessen taten Elend, Verbrechen, Unterdrückung, Krieg sich auf: Nebelhaft erkannte ich Horizonte, die mich tief erschreckten.
    Dennoch kehrte ich Mitte November zum Montparnasse zurück. Studieren, Schwatzen, ins Kino gehen – auf einmal war ich dieser festen Ordnung müde. Hieß das wirklich leben? Oder lebte nur ich allein so? Es hatte Tränen, Fieber, Abenteuer, Poesie und Liebe gegeben, eine ganze pathetische Existenz; ich wollte dahinter nicht zurückstehen. An diesem Abend sollte ich mit meiner Schwester ins ‹Théâtre de l’Œuvre› gehen; ich traf mich mit ihr im ‹Dôme› und schleppte sie mit ins ‹Jockey›. Wie der Gläubige sich nach einer Krise der seelischen Dürre besonders innig dem Duft von Weihrauch und Kerzen hingibt, so tauchte ich wieder in den Brodem von Alkohol und Tabak ein. Schnell waren sie mir zu Kopf gestiegen. An unsere alten Gewohnheiten anknüpfend, tauschten wir lärmend Beleidigungen aus und fielen übereinander her. Ich aber hatte das Bedürfnis, mich auf seriösere Art zu amüsieren, und führte meine Schwester ins ‹Stryx›. Wir trafen dort den kleinen Bresson und einen seiner Freunde, der schon um die vierzig war. Dieser Mann im reiferen Alter flirtete mit Poupette und schenkte ihr Veilchen, während ich mit Riquet sprach, der Jacques mir gegenüber verteidigte. «Er hat manchen harten Stoß aushalten müssen», sagte er zu mir, «aber er ist immer wieder darüber hinweggekommen.» Er sagte mir auch, welche Kraft in seiner Schwäche liege, welche Aufrichtigkeit sich hinter seiner Geschwollenheit verberge, wie gut er zwischen zwei Cocktails von ernsten und schmerzlichen Dingen zu reden wisse und mit welcher Klarsicht er die Eitelkeit aller Dinge ausgelotet habe. «Jacques wird niemals glücklich sein», schloss er bewundernd seine Apologie. Mein Herz zog sich zusammen: «Und wenn jemand ihm alles gäbe?», fragte ich. «Das würde ihn demütigen.» Furcht und Hoffnung packten mich gleichzeitig an der Kehle. Den ganzen Boulevard Raspail entlang schluchzte ich in die Veilchen.
    Ich liebte die Tränen, die Hoffnung, die Furcht. Als Clairaut am folgenden Tage mich fest anblickte und sagte: «Sie werden eine Doktorarbeit über Spinoza machen: Es gibt nur das im Leben: sich verheiraten und eine Doktorarbeit machen», sträubte ich mich innerlich. Eine Laufbahn einschlagen, sich dem Genuss ergeben: Das waren zwei Wege zur inneren Ablenkung. Pradelle stimmte darin mit mir überein, dass auch die Arbeit eine Droge werden kann. Ich dankte Jacques überschwänglich, ihm, dessen Bild mich der Besessenheit durch das Studium entrissen hatte. Zweifellos standen manche von meinen Studiengefährten an der Sorbonne geistig über ihm, aber was machte das schon aus. Die Zukunft eines Clairaut oder Pradelle schien mir im Voraus vorgezeichnet; die Existenz von Jacques und seinen Freunden kam mir wie ein unaufhörliches Hasardspiel vor: Möglicherweise würden sie damit andere, sich selbst oder ihr Leben ruinieren. Ich zog jedoch dieses Risiko allen Formen der Verkalkung vor.
    Einen Monat lang zog ich ein- oder zweimal die Woche mit Stépha, Fernando und einem ihrem Freundeskreis angehörenden ukrainischen Journalisten, der aber in seiner Freizeit lieber Japanisch trieb, ins ‹Stryx›; auch meine Schwester, Lisa oder Mallet kamen mit. Ich weiß nicht, wo ich in jenem Jahr das Geld hernahm, denn ich gab keinen Unterricht mehr. Zweifellos sparte ich es mir von den fünf Franc ab, die mir meine Mutter täglich für mein Mittagessen gab, oder kratzte es sonst irgendwie zusammen. Auf alle Fälle richtete ich mein Budget ganz und gar auf diese Orgien aus. ‹Bei Picart in
Onze chapitres sur Platon
von Alain geblättert. Kostet acht Cocktails; zu teuer.› Stépha verkleidete sich als Barmaid und half Michel beim Bedienen der Kunden; sie trieb in vier Sprachen ihre Späße mit ihnen oder trug ukrainische Gassenhauer vor. Mit Riquet und seinem Freund sprachen wir von Giraudoux, von Gide, vom Kino, vom Leben, von Frauen, von den Männern,

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