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Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Titel: Memoiren einer Tochter aus gutem Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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sie niemals so stark auf mich eingewirkt.
    Ihr Einfluss erklärte sich tatsächlich großenteils aus unserem innigen Zusammenleben. Mein Vater behandelte mich wie eine Erwachsene. Meine Mutter verwendete alle Sorge auf das Kind, das ich war. Sie bewies mir mehr Nachsicht als er: Sie fand es natürlich, dass ich herumalberte, während ich ihn dadurch reizte. Sie amüsierte sich über Einfälle oder kleine Schreibereien, an denen er nichts Komisches fand. Ich legte Wert auf die Achtung der anderen, aber ich wollte vor allem so genommen werden, wie ich war, mit allen Mängeln meiner noch jungen Jahre; meine Mutter gab mir durch ihre Zärtlichkeit für mein Wesen volle Rechtfertigung. Das schmeichelhafteste Lob jedoch war für mich das, das ich von meinem Vater erhielt; wenn er jedoch schalt, weil ich in seinem Arbeitszimmer Unordnung gemacht hatte, oder ausrief: «Diese dummen Kinder!», nahm ich solche Reden leicht, da er ihnen selbst offenbar wenig Gewicht beilegte; umgekehrt stellte jeder Vorwurf meiner Mutter, ein bloßes Brauenrunzeln schon, die Sicherheit meiner Welt in Frage; ohne ihre Billigung meinte ich keinerlei Daseinsberechtigung mehr zu haben.
    Wenn ihr Tadel mich so tief traf, so vor allem deswegen, weil ich auf ihr Wohlwollen baute. Als ich sieben oder acht Jahre alt war, tat ich mir ihr gegenüber keinen Zwang an, ich äußerte mich in aller Freimütigkeit. Eine ganz bestimmte Erinnerung lässt mich in dieser Hinsicht ganz sicher sein. Ich litt nach den Masern an einer leichten Rückgratverkrümmung; ein Arzt zog mit dem Finger an meiner Wirbelsäule entlang eine Linie, als ob mein Rücken eine Schultafel sei, und verschrieb mir schwedische Gymnastik. Ich nahm ein paar Privatstunden bei einem großen, blonden Lehrer. Als ich eines Nachmittags auf ihn wartete, übte ich mich an der Stange; oben angekommen, verspürte ich eine sonderbare Reizung zwischen den Beinen; es war angenehm und enttäuschend zugleich; ich versuchte es noch einmal, die gleiche Erscheinung stellte sich ein. «Das ist doch merkwürdig», sagte ich zu Mama; ich beschrieb ihr, was ich empfunden hatte. Mit gleichgültiger Miene sprach sie von etwas anderem, und ich glaubte, eine jener überflüssigen Bemerkungen gemacht zu haben, die einfach keiner Antwort bedürfen.
    In der Folge erst änderte ich meine Haltung. Als ich mich ein oder zwei Jahre später nach den ‹Banden des Blutes› fragte, von denen in Büchern so oft die Rede ist, und nach der ‹Frucht deines Leibes› aus dem
Gegrüßt seist du, Maria
, teilte ich meiner Mutter meine Vermutungen nicht mit. Es mag sein, dass sie inzwischen einigen meiner Fragen Widerstände entgegengesetzt hatte, an die ich mich nicht mehr erinnere. Aber mein Schweigen war die Folge einer Parole allgemeinerer Art; von nun an passte ich auf mich auf. Meine Mutter strafte mich selten, und wenn sie auch gelegentlich eine lose Hand hatte, so taten ihre Ohrfeigen doch nicht besonders weh. Indessen begann ich, ohne sie deswegen weniger zu lieben, sie allmählich zu fürchten. Es gab da ein Wort, das sie gern gebrauchte und das auf meine Schwester und mich völlig lähmend wirkte: «Das ist ja lächerlich!» Wir hörten sie dieses Verdikt häufig aussprechen, wenn sie mit Papa zusammen das Verhalten eines Dritten kritisierte; richtete es sich gegen uns, so stürzte es uns aus dem Familienempyreum in den Abgrund hinab, in dem die übrige Menschheit ihr Dasein fristete. Unfähig vorauszusehen, welche Geste, welcher Ausspruch es entfesselte, sahen wir in jeder eigenmächtigen Äußerung in dieser Hinsicht eine Gefahr; es schien ein Gebot der Klugheit zu sein, sich einfach still zu verhalten. Ich erinnere mich noch an unser Staunen, als wir Mama um die Erlaubnis gebeten hatten, unsere Puppen mit in die Ferien zu nehmen, und sie ganz einfach antwortete: «Warum nicht?» Jahre hindurch hatten wir diesen Wunsch immer wieder in unseren Herzen begraben. Gewiss war der erste Grund meiner Schüchternheit, dass ich Nichtachtung fürchtete. Aber ich glaube, dass ich, wenn ihre Augen einen gewittrigen Glanz bekamen oder sie auch nur missbilligend die Lippen verzog, ebenso sehr wie meine eigene Niederlage die heftige Wallung fürchtete, die ich in ihrem Herzen hervorrief. Hätte sie mich bei einer Lüge ertappt, so hätte ich ihre Empörung stärker empfunden als meine eigene Schmach: Die Vorstellung war mir so unerträglich, dass ich immer die Wahrheit sprach. Offenbar machte ich mir nicht klar, dass meine Mutter,

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