Memoiren einer Tochter aus gutem Hause
Geschöpfe, als sei es das einzige; keinen Augenblick wich sein Blick von mir, alle anderen aber waren von unserer Zweisamkeit ausgeschlossen; ich löschte sie aus, es gab auf der Welt einzig ihn und mich, ich aber fühlte mich notwendig für seinen Ruhm: Mein Dasein hatte also einen unendlichen Wert. Er ließ davon nichts verlorengehen: Endgültiger als in den Registern der Damen des Cours Désir waren meine Handlungen, Gedanken und Verdienste für alle Ewigkeit in ihm aufbewahrt, offenbar auch mein Versagen, doch so weißgewaschen durch meine Reue, dass es fast ebenso hell erstrahlte wie meine Tugenden. Ich wurde nicht müde, mich in diesem Spiegel ohne Anfang und Ende zu bewundern. Mein Bild, das von der Freude widerstrahlte, die es im Herzen Gottes weckte, tröstete mich über alle Unzulänglichkeiten dieser Welt; es rettete mich vor Gleichgültigkeit, vor Ungerechtigkeit und menschlichem Missverstehen, denn Gott ergriff immer meine Partei; hatte ich irgendein Unrecht begangen, so hauchte er in dem Augenblick, da ich ihn um Verzeihung bat, über meine Seele nur hin, und auf der Stelle hatte sie wieder ihren vormaligen Schimmer; gewöhnlich aber verflüchtigten sich in seinem Glanz die Missetaten, die mir zur Last gelegt wurden; indem er mich richtete, sprach er mich auch schon frei. Er war die höchste Instanz, bei der ich immer recht bekam. Ich liebte ihn mit der ganzen Leidenschaft, die ich dem Leben entgegenbrachte.
Jedes Jahr machte ich eine Retraite; den ganzen Tag über hörte ich die Weisungen eines Predigers an, ich nahm an jedem Gottesdienst teil, ich betete den Rosenkranz und gab mich frommer Betrachtung hin; ich aß im Rahmen der Kurse zu Mittag, wo während der Mahlzeit eine aufsichtführende Schwester uns die Lebensgeschichte einer Heiligen vorlas. Am Abend, zu Hause, respektierte Mama meine schweigsame Sammlung. Ich trug meine seelischen Aufschwünge sowie meine Entschlüsse zur Heiligkeit in ein Heftchen ein. Ich wünschte glühend, mich Gott zu nähern, aber ich wusste nicht, wie ich es anstellen sollte. Mein Verhalten ließ tatsächlich wenig zu wünschen übrig, sodass es kaum noch zu verbessern war; im Übrigen aber fragte ich mich, in welchem Ausmaß es Gott überhaupt betraf. Die meisten Vergehen, um derentwillen meine Mutter uns, meine Schwester und mich, jemals tadelte, waren Ungeschicklichkeiten oder Unbesonnenheiten. Poupette wurde hart gescholten und bestraft, weil sie einen Zibetkragen verloren hatte. Als ich beim Krebsefischen mit Onkel Gaston im künstlichen Fluss ins Wasser fiel, erschreckte mich vor allem die Standpauke, die ich voraussah, sie blieb mir übrigens dann aber doch erspart. Diese Missgeschicke hatten nichts mit Sünde gemein: Dadurch, dass ich sie vermied, würde ich nicht zu größerer Vollkommenheit gelangen. Misslich war, dass Gott eine Menge Dinge verbot, aber nichts Positives verlangte außer einigen Gebeten und Verrichtungen, die den Tageslauf nicht wesentlich veränderten. Ich fand sogar bizarr, wie schnell die Leute, nachdem sie soeben zur Kommunion gegangen waren, sich wieder in ihre gewohnte Betriebsamkeit stürzten; ich machte es wie sie, jedoch mit einem gewissen Gefühl der Befangenheit. Im Grunde führten die Gläubigen und Ungläubigen genau die gleiche Existenz; mehr und mehr überzeugte ich mich, dass im Alltagsdasein kein Raum für überweltliches Leben sei. Dennoch zählte nur dieses allein. Eines Morgens kam mir die jähe Erleuchtung, dass ein von der künftigen Seligkeit überzeugter Christ den vergänglichen Dingen nicht den geringsten Wert beimessen dürfe. Wie ertrug es die Mehrzahl von ihnen, in der Welt zu bleiben? Je mehr ich nachdachte, desto mehr staunte ich. Ich kam zu dem Schluss, dass ich ihrem Beispiel auf keinen Fall folgen wollte: Ich hatte zwischen Unendlichkeit und Endlichkeit gewählt. ‹Ich werde ins Kloster gehen›, beschloss ich daher. Die Betätigung der Barmherzigen Schwestern kam mir noch allzu nichtig vor; es gab keine andere vernunftgemäße Beschäftigung, als sich ganz der Betrachtung der Glorie Gottes zu weihen. Ich beschloss, Karmeliterin zu werden. Ich eröffnete mich über diesen Plan einstweilen noch nicht, er wäre nicht ernst genommen worden. So begnügte ich mich damit, mit vielsagender Miene zu erklären: «Ich heirate nie.» Mein Vater lächelte. «Wir werden uns wieder sprechen, wenn sie fünfzehn Jahre alt ist.» Im Innern lächelte ich zurück. Ich wusste, dass eine unerbittliche Logik mich ins Kloster
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